Japan2005
Montag, Januar 10, 2005
  133 Monde .

Ich höre nicht auf, mich zu wundern. Zum Beispiel darüber, dass es im Wasserkessel keine Kalkrückstände gibt. Aber heute ist Montag: getsuyobi – Tag des Mondes. Wie im Baselbiet. Und der Mond sieht chinesisch geschrieben, oder mit den japanischen Kanji, das macht keinen Unterschied, fast genauso aus wie die Sonne. Ein hochkantgestelltes Rechteck, mit einem Strich in der Mitte = Sonne. Dasselbe mit Beinchen, bzw. mit leicht nach links geschwungenen, verlängerten Längsseiten des Rechtecks = Mond. Und weil heute der zweite Montag des Jahres ist, haben wir Feiertag (siehe gestern „Seijin no hi“) und der Professor ist zu Hause. Noch pflegt er seine Verzweiflung mit der Direktübertragung der Sumokämpfe im Fernsehen. Diese Kämpfe, erklärte er mir vorhin mit leuchtenden Augen, werden den Göttern zur Freude ausgetragen. Und weiter: nicht auf die Körpermasse komme es an, sondern auf die Taktik, die Konzentration, das geistige Sammeln der Kräfte. Der Kampf sei bereits entschieden, bevor die Körper der beiden Sumoringer aufeinander stießen. Interessant. Ob das auch für andere Bereiche zutrifft? Denke ich und schweige. Wir feiern heute 133 Monate Ehe. Wir müssen die Monate zählen und feiern, sonst kommen wir nie auf einen grünen Zweig. Vor einem Monat waren wir in Köln in der Hopper-Ausstellung. Und seit bald zwei Wochen sehe ich tagtäglich vor Sonnenuntergang ein Hopperbild nach dem anderen von meinem kalten Balkon aus. Abendsonnenglühen an einem alleinstehenden Haus in der Stadt. Mittagssonnenlicht an einem alleinstehenden Haus in der Stadt. Nachmittagswolkenhimmel über einem alleinstehenden Haus in der Stadt. Frühmorgensonnenschein an einem alleinstehenden Haus in der Stadt. Schneetreiben (hopperuntypisch!) um ein alleinstehendes Haus in der Stadt. Sonne auf rauhbereiftem Gemüseacker vor einem alleinstehenden Haus in der Stadt. Sonnenuntergangsfeuer an einem alleinstehenden Haus in der Stadt. Schade, dass ich nicht Hopper bin. Und weder Pinsel noch Farbtuben besitze. Wir feierten den Tag mit einem Ausflug in die chemische Reinigung. Dort wäre heute eine Hose des Professors abzuholen gewesen. Aber die Abholquittung war vor Ort plötzlich unauffindbar. So radelten wir unverrichteter Dinge in der warmen Mittagssonne wieder nach Hause. Hier fand sich dann die Quittung in unserer bereits ansehnlichen Sammlung von Kassenbons. Auch daraus entsteht ein Kunstwerk. Und plötzlich machte sich Erleichterung breit: neben dem Datum steht auf dem Zettel erkennbar auch die Uhrzeit. Die gereinigte und bundfaltengebügelte Hose kann erst nach 18 Uhr in Empfang genommen werden. Also erledigt die Ehefrau das morgen selbsttätig. Wir feierten bereits um Mitternacht. Denn solche Momente sind unaufschiebbar im Leben. Öffneten ein halbes Fläschchen Freixenet brut. Da der Neujahrsfreixenet nicht so gemundet hatte, wie einst in Berlin oder Stralsund, beschränkten wir uns jetzt auf ein 37,5 cl Fläschchen. Etwas, was mir in Deutschland noch nie untergekommen ist. Ein halbes schwarzes Fläschchen. Gerade richtig für unsere gegenwärtige instabile Stimmungslage zwischen Euphorie, Verzweiflung und Anpassung. Die Geschmacksnerven sind erstaunlicherweise schneller als die Gedanken. Ich werde bereits süchtig nach eingelegtem Ingwer, scharfem Wasabi und rohem Fisch. Auf dem heimischen Frühstückstisch Sushi, Soyasauce, bitterer Rettich und der Tag ist gerettet. Bei La cave de YaMaYa, einem angeblichen Franzosen, kostet eine Flasche Veuve Cliquot nur halb so viel wie in Deutschland. Auch polnischen Spiritus hat er – neben dem bereits erwähnten Żubrówka aus der Puszcza Białywiejska, wo ich in einem früheren Leben mal in einen Zbyszek verliebt war – im Angebot. Weiß der unschuldig blaue Winterhimmel über Tsukuba, für wen. 96-prozentiger Alkohol! Billiger als in Warschau! Den vertragen nur polnische oder sibirische Köpfe. Wir waren, wie gesagt, vorsichtig und altersvernünftig. Kauften ein halbes Fläschchen Freixenet, froh über die Wunder und Wege der Globalisierung, und tranken es heut Nacht in trauter Zweisamkeit aus.


 
Comments:
Ja, die 133 Monde, das erinnert mich natürlich auch immer wieder an den besagten 10. Dezember 1993 und die Tage danach. Da waren wir noch nicht altersvernünftig. Und ein halbes Fläschen Freixenet hätte da nirgendwohin gereicht, nicht mal zum Frühstück. Ich verbringe die letzten 1 1/2 Stunden des 10. Januar in Gedanken an euch und eure glückliche Ehe und trinke ein paar Schlucke guten Rotweins auf euer Wohl.
Und wundere dich weiter, Judith im Wunderland!
Seid herzlich gegrüsst von Frieda
 
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Judith Arlt in Japan. -- Es hat mich in ein Land verschlagen, das sauberer ist als die Schweiz. -- Zu einer Jahreszeit, die ich lieber bei den wildlebenden Kaiserpinguinen auf dem Meereis in der Weddel See verbringen würde. -- Als begleitendes Familienmitglied eines Research Fellows der Japan Society for the Promotion of Science. -- Judith Arlt in Tsukuba Science City, Präfektur Ibaraki.

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