Japan2005
Samstag, Februar 19, 2005
  Tēburu .

Fortan muss ich mich auf das Wesentliche konzentrieren. Alle Ablenkungsmöglichkeiten sind heute auf dem Postamt gelandet. Ich brachte zum ersten Mal ein japanisches Wort mit Erfolg und Sichtkontakt über die Lippen. An den Mann. Und dem Professor gelang es zum ersten Mal mit Erfolg und fernmündlich, ein Taxi zu ordern. Ich sagte „yūbin-kyoku“, der Fahrer nickte und fuhr zufrieden los. Aiga-san hatte uns in Berlin gedrillt. Mit Zahlwörtern, Uhrzeiten und Mittagspausen. Fast hätte ich dem Tsukubaer Taximenschen auch noch gesagt, von wann bis wann yūbin-kyoku im Lehrbuch „Japanisch im Sauseschritt“ samstags geöffnet hat. Die Sätze, die uns Aiga-san sinnlos oft wiederholen ließ, sitzen im Kopf fest wie Baumstrünke. Knospenlos. Entgrünt.

Ein trüber Tag wie noch nie in Tsukuba. Es schüttet vom Himmel. Ohn’ Unterlass. Mario meldet aus Tokyo Schnee. Geblieben sind mir die kalte Bibliothek und eine schlecht kopierte Überlebensstrategie. Seit dem gestrigen Sashimi-Essen steckt ein Wort im Ohr fest. Die Kellnerin sagte etwas, ein Schwall von Japanisch ergoss sich wie immer, bevor sie uns platzierte. Ich verstand nichts. Erahnte nur im Tonfall die entweder-oder-Frage. Eiko antwortete „table“. Und so glaubte ich im Nachhinein in der Frage der Kellnerin das Wort „table“ als entweder-Option gehört zu haben. Reziprokes Sprech-Unverständnis. Wir wurden an einen Tisch mit Stühlen gesetzt. Assen mit baumelnden Füssen rohen Fisch und tranken Tee. In der Nacht trieb das Wort Blüten. Und heute früh fand ich es beim Schein der Neonröhre über meinem Schreibtisch in der schräg kopierten Notfallbroschüre wieder. Das einzige Schriftstück, das mir geblieben ist. Die einzigen Katakana-Silben, die ich im ununterbrochenen Zusammenschluss von unterschiedlichen Zeichen unter Punkt 1 erkennen kann. Der Tisch, unter den sich jedermann im Fall eines Erdbebens unverzüglich zu begeben und dessen Beine er festzuhalten hat, heißt tēburu. Ein Fremdwort. Oder ein Lehnwort. Stammt höchstwahrscheinlich aus dem Angelsächsischen. Ist die japanische Vorleseart von table. Es wird außerdem empfohlen, den Kopf unter dem Tisch mit einem Kissen zu schützen. Ich werde die letzten Nächte in Japan unter dem englischen Tisch verbringen und darüber nachdenken, ob es schon zur Edo-Zeit Erdbeben gab. Denn langbeinige Tische – tēburu – gab es damals bestimmt nicht.

Die deutsche Geologin in Beppu erzählte von ihren Ängsten in diesem Land. Sie fangen an bei der Flugangst und hören auf bei der Vulkanausbruchsangst. Da Vulkanausbrüchen meist Erdbeben vorausgehen, ist die Erdbebenangst umsonst miteingeschlossen. Sie könnte in diesem Land nicht in einem Wohnblock leben. Sagte sie und goss Kerosin nach. Der Ofen war ausgegangen. Ich könnte nicht in einem unbeheizbaren Haus leben. Sagte ich in dem bis zum Dachstuhl offenen Wohnzimmer, welches mich das Frieren lehrte. Das Haus roch wie die Aussichtsterrasse von Haneda. Ich liebe Vulkane. Ich liebe Flugzeuge. Auf dieser Insel liebe ich es ganz besonders, dass die Piloten auf den Inlandflügen ihre Sicht aus dem Cockpit in die Kabine weitergeben. Die einzige Art von japanischem Kollektiverlebnis, das mir nicht zuwider ist. Lieber sterbe ich unter zehn gemauerten Stockwerken. Als dass ich mit kalten Füßen lebe.

Im Economist, der Lieblingszeitschrift des Professors, im Artikel über das bloggen, wird als „radikales“ Beispiel für eine offene Kommunikation die Genesung des flugangstbefallenen Mr. Pryor („who is – really – Microsoft’s ‚director of platform evangelism’“) herangezogen. Ein Pilot hatte Pryor erlaubt, während des Fluges über Kopfhörer die Cockpitgespräche mitzuhören. Pryor war seine Angst auf einen Schlag los. Ich kenne das. Ich saß auf einem Flug von Basel nach Berlin im Cockpit. Und hörte auch mit. Jeder, der im Cockpit sitzt, bekommt einen Kopfhörer übergestülpt und hört unweigerlich. Alles. Mit. Mich sicherten weniger die „ehrlichen Worte realer Menschen“ (Pryor) ab als die Worte unsichtbarer Menschen vom Boden. Aus verschiedenen Flugsicherheitsbüros. Damals konnte man auf deren Mitarbeiter noch bauen. Wir hatten den Schweizer Luftraum längst verlassen. Ich starrte fasziniert in die Küchen türkischer Familien in Neukölln. Wir landeten in Tempelhof. Ich war der Schweiz entkommen. Die Worte vom Boden kamen wie feine Fäden nach oben. Wie Stricke, die nie reißen.

Ich muss mich auf das Wesentliche konzentrieren. Ich packte einen Koffer. Der Professor fliegt morgen nach Peking. Ich bleibe allein in Tsukuba zurück. Ich werde mit dem Kissen über dem Kopf unter dem Tisch schlafen. 
Freitag, Februar 18, 2005
  Die Gnade der fremden Sprache .

Der japanischen Sprache bin ich kein bisschen näher gekommen. Ich buchstabiere einige Katakana-Silben und erkenne höchstens ein Fremdwort. Wir packten heute 20 Kilogramm Papier ein. Bücher. Manuskripte. Thesen. Themen. Pläne. Parkanlagen. Wegbeschreibungen. Ich habe nun gar nichts mehr. Woran ich mich festhalten, worauf ich mich beziehen könnte. Auch Tanizaki Jun’ichiro ist aus der Griffbereitschaft verschwunden. Und die beiden Shinkansen-Fahrpläne, die der Professor wegwerfen wollte, stecke ich in einen Briefumschlag des Hotels Nikko aus Niigata. Der Nachhaltigkeitsspezialist weiß, worauf es im Leben ankommt. Welchen Einfluss ein Hotelzimmer auf Weiterreise und existenzielle Bedürfnisse nehmen kann. Hat deshalb bereits in Niigata zwei Briefumschläge mitgenommen. Für alle Fälle. Die Klappe ist gummiert. Ich staune – zum wievielten Mal seit dem zweiten Erdbeben? In Beppu ließ ich mir sagen, aus hygienischen Gründen sei in diesem Land alles, was mit menschlichem Speichel in Berührung kommen könnte, abgeschafft worden. Küssen verboten. Ich adressiere den Umschlag an meinen Freund Wojtek in Bydgoszcz. Er ist habilitierter Sozrealimusspezialist und erforscht seit Jahren das Literarische von Fahrplänen, Eisenbahnschienen und Wagenrädern.

Eine Sprache ist eine Krankheit. Manchmal unheilbar. Die Japanerin, neben der ich mich gestern Abend zufällig fand, erzählte mir, sie hätte ein behindertes Kind. Eine gesunde Tochter. Und einen mongoloiden Sohn. Man würde sie und ihre Familie bemitleiden, weil sie in den Augen der uniformen japanischen Gesellschaft unglücklich sein müssten. Und weil die Familie unglücklich sei, würde verziehen, dass die Tochter Klassen- und Schulbeste sei. Dies würde akzeptiert, weil dadurch die Familienintelligenz im unscheinbaren Mittelmass bleibe. Sie lacht. Kämpft. Um den Platz in der normalen Schule. Mit den Ärzten. Gegen die Lehrer. Immer wieder.

Das behinderte Kind schreibt am Nachmittag, wenn es aus der normalen Schule kommt, Haikus. Summt vor sich hin. Findet seine eigene Sprache. Seine eigenen Bilder.

„Auf einen Nagel, der hervorsteht, haut man drauf“. Einer der ersten Sätze, die ich über Japan gelesen habe. In einem Reiseführer. Aus Langeweile. Am Flughafen. Beim Umsteigen in Wien. Angeblich ein Sprichwort, welches japanischen Kindern in der Schule vom ersten Tag an eingetrichtert wird. Wie die Maßregel, bei einem Erdbeben unter den Tisch zu kriechen und die Tischbeine festzuhalten. Ich war noch in keiner japanischen Wohnung. Aber die Tatamiräume, die ich in den traditionellen Inns sowie in Museen, Tempeln, Gärten und Burgen gesehen haben, kennen kein Mobiliar. Keinen Tisch, unter dem ein Mensch Platz fände. Geschweige denn eine Familie. Mutter mit Kind. Das Leben spielt sich traditionell am Innenfußboden ab. Und wird von keinen Schuhen berührt.

Seit dem zweiten Erdbeben steht in der Eingangshalle des Ninomiya Houses ein Stuhl. Darauf eine Kiste. Darin ein Berg schwarzweißkopierter und von Hand zusammengeklammerter Broschüren „Earthquake Emergency Procedures“. Fünfsprachig. Japanisch, englisch, koreanisch, pekinchinesisch und spanisch. An der Stuhllehne klebt in Zettel. „Please feel free to take one“. Eine ungewohnt freundliche Geste der Administration. Das Erdbebennotfallprocedere funktioniert ausschließlich mit Männern. Männer weisen Wege, Männer ergreifen Feuerlöscher, Männer öffnen Türen, Männer bergen Verschüttete. Mütter hingegen sitzen unter Tischen. Mädchen tragen Verbandskästen. Sie gucken dumm in die Welt. Mit kugelrund geöffnetem Mund.

Die zweite Japanerin unter den internationalen Frauen sagt, nachdem Fotos geschossen und Plätze getauscht wurden, die englische Sprache befreie sie. Das Japanische enge sie ein. Ja, bedrohe sie. Ihre Muttersprache setze sie schutzlos negativen Gefühlen anderer aus. Neid. Missgunst. Eifersucht. Sie versetzt meiner undankbaren Haltung in diesem Land weitere heftige Stöße. Wie das zweite Erdbeben in der Nacht. Ich bin erschüttert. Da auch ich oft genug aus der Muttersprache fliehe. Aus hinterlistigen, übermütigen Gründen. Im Polnischen kann ich mich austoben. Die fremde Sprache macht mich frech. Sie beschränkt mich notgedrungen. Engt ein. Weist mich in ihre (nicht meine) Schranken. Alle Defizite an Wortschatz, Grammatik und Stilistik muss ich überspielen. Kreativ und hochnäsig. In der fremden Sprache begehre ich auf wie ein übermüdetes Kind. Die zweite Japanerin hingegen sagt, sie könne überhaupt erst in der fremden Sprache über sich selbst sprechen. Offen und unendlich. Ich staune. Wir sitzen bis weit nach Mitternacht zusammen. In der englischen Sprache. Zum Abschied begleite ich sie in die Parketage. Ich bin nicht sicher, ob das Ninomiya House sie so spät noch entlässt. Sie umarmt mich vor dem Auto. Die Schranke springt hoch. 
  Frauenpower .

Vormittag. Konnte gestern Abend nicht schreiben. Traf mich mit einer internationalen Frauengruppe. Wozu ich überhaupt keine Lust hatte. Keinen Anlass sah. Wozu? Meine Zeit läuft unerbittlich ab. Die Resignation ist schon vor Tagen angekommen. Die Bitterkeit im Kopf. Es lohnt sich nicht mehr.
Seit mir das Beben des Ninomiya Hauses – etwas anderes war es nicht, ich spürte nur das Haus wackeln, keine Erde beben – in den Knochen gefahren ist, hat sich unerwartet alles radikal verändert.

Später mehr. Mittagessen mit Aoki-san und seiner Assistentin Eiko. Das institutionelle Abschiednehmen fängt an. Dem Professor bleiben fünf Arbeitstage. 
Mittwoch, Februar 16, 2005
  Erschütterungen .


foto: für frieda zur späteren freude

Gewürze. Gedächtnis. Gefühle. Gesang. Gewackel.

Erdbeben sind wie Vulkanausbrüche. Sie haben eine lange Vorgeschichte.
Vom Epizentrum des Erdbebens dieser Nacht waren wir in Tsukuba nur vier Kilometer entfernt. Der einzige Schwerverletzte ist ein 65-jähriger Mann, der in seinem Haus in Tsukuba die Treppe hinunterstürzte. Wahrscheinlich weil er sich an die offizielle Notfallanweisung seines Landes halten wollte, im Falle eines Erdbebens unter die Tür zu treten.

Unsere Geschichte des Erdbebens, das um 4:44 Uhr rund 65 Kilometer unter der flachen und erdreichen Kantō-Ebene, dem größten Reisfeld des Landes, am südlichen Ende der Ibaraki-Präfektur seinen Lauf nahm, begann gestern Abend im Dhaba India in Süd-Yaesu, Tokyo mit einer Erschütterung der Geschmacksnerven. Hungrig nach dem Gespräch mit Makiko in Meguro (völlig ausgetrocknetes Büro) und vor dem Frauenjazz in Ginza (die Bar schwarz wie die Nacht), kamen wir zufällig an dem tamilischen Restaurant vorbei. Guckten. Nickten. Warum nicht einmal etwas anderes. Bereits unter der Tür stachen mir die scharfen Gewürze in die Nase. Ein tamilischer Koch an der offenen Kochstelle. In der Schweiz stehen solche Menschen am Abwasch. Sein Hühnercurry scharf und blattgrün. Der Riesengarnelencreamcurry nach Madras Art sämig und orangenfroh. Masala Dosa mit Pfefferminzzimtsosse. Hinterhältig die Unschuld von körnigem Basmatireis. Aufgeblähtes Naan. Geschmackssensationen nach sieben Wochen farbloser Kost! Japanisches Essen ist gut aber ungewürzt. Frisch und unscheinbar. Ich hatte mich so daran gewöhnt, dass mir schien, es sei das einzige, was mich hier wirklich am Leben halte. Und nun lassen plötzlich ein paar kunterbunt gemischte indische Gewürze alles zusammen einstürzen. Die ganze selbstgemachte Spielkartenwelt. An der Wand hingen Schuhe. Saumselige Schuhe. Südindische Tempeltanzschnabelschuhe (siehe Foto oben). Glitzernde, paillettenbesetzte Kopfstehschuhe. In Japan. An der Wand. Nicht vor der Tür. Wir tranken Wasser. Frieda, schoss es mir durch das klare Kopfstehen. Wandabwärtslaufen. Und der grüne Curry trieb mir Tränen in die Augen. Friedas Geburtstag. Alle Jahre wieder. Erinnere ich mich an Friedas Geburtstag nur zeitverzögert.

Unsere Geschichte des Erdbebens, das um 4:44 Uhr begann, weil die Nordspitze der philippinischen Erdplatte ein winziges Stückchen weiter unter die Amur-Platte rutschte, nahm seinen Anfang im vierten Stock des IK-Gebäudes in einem unterteilten Großraumbüro bei mindestens 28° Raumtemperatur. JES (Japan Ecotourism Society) hat dort einen durch dünne und durchsichtige Trennwände abgeteilten winzigen Raum zur Verfügung, in dem zwei mit Papieren übersäte Schreibtische stehen. Das Gespräch fand in einer offenen Besprechungszelle statt. Jeder, der vorüber ging, und es gingen viele vorüber, konnte über die Rückenlehne meines, ihres und seines Stuhls gucken. Vielleicht ist es manchmal eine Gnade, nicht japanisch zu sprechen. Makikos englische Offenheit. Oder mein Irrtum. Seit ich das Erdbeben in den Knochen habe, weiß ich, dass nichts so ist, wie ich in meiner Undankbarkeit denke. Die Gefühlsverwirrung. M. unterbricht den Professor und berichtet seelenruhig, den Japanern fehle es nicht nur an Liebe zur Natur – die Kirschblüte ist ein „event“ geworden, ebenso die Umeblüte, die Ahornblüte und das bunte Herbstlaub –, sondern an Liebe zu den Menschen. Ein ebenerdiges japanisches Gesicht. Ungeschminkt. Haar ohne Henna. Fingernägel ohne Lack. Die Meiji-Reform brach zu abrupt mit der dreihundertjährigen Edo-Zeit und Samurai-Tradition. Alles wurde umgekrempelt. Auf die vollständige Isolierung folgte der gnadenlose Wettlauf. Mit dem Ausland. Mit dem Westen. Weder die Seelen noch die Köpfe noch die Füße der Menschen kamen mit. Die Atombomben fielen auf ein bereits liebesentleertes Land. Sagt M. und guckt zur Decke. Wahrscheinlich, denke ich, ist sie kurzsichtig und trägt Kontaktlinsen.

Die Geschichte der Gefühlsverwirrung nahm ihren Fortgang im vornehmen Geschäfts- und Vergnügungsviertel Ginza. Wir gingen zu Fuß. Von der Tokyo-Station aus. Zum ersten Mal bekam ich ein warmes Gehgefühl in die Füße. Von einem Busbahnhof, einem JR-Line-Bahnhof, einem Shinkansen-Bahnhof, einem Untergrundbahn-Bahnhof. Kann man laufen. Irgendwohin. Weglaufen. Und Jazz hören. Eine warme Frauenstimme. Eine gefühlvolle Frauenstimme. Ausgerechnet in der tiefschwarzen Bar unter der Erde. Sie singt vom blauen Himmel und vom Flug zum Mond. Ausgerechnet. Und die grölenden Herren im Anzug. Mit glasigen Augen. Auf drei Mann eine Frau. Es ist plötzlich egal geworden. Wie maskulin sich die Welt hier maskiert. Wir müssen früh wieder los. Wir wohnen auf dem Lande. Den Gedanken, in Tokyo zu übernachten, hatten wir irgendwann schnell verworfen. Der Professor hätte ein sauberes Hemd gebraucht. Ich hätte mich darauf verlassen können, dass in diesem Land in jedem Hotelzimmer eine hygienisch verpackte Zahnbürste mit einer kleinen Tube Zahnpasta wartet. Auf den Strassen von Ginza torkelt in der Nacht das Maskuline und betreibt „the common form of civil pollution“ (Hiroshi Kondo, The Book of Saké, S. 95).

Unsere Geschichte des heutigen Erdbebens, das offiziell um 4:46:38 Lokalzeit begann und eine Stärke von 5,4 auf der nach oben offenen Richterskala erreichte, ist sowohl nach vorne wie nach hinten offen. Die Zeit ist aus der Welt gefallen. Das Haus ist unruhig und auf Empfang eingestellt. Es bekommt Impulse von der Erde. Bewegungen von den tiefen Schichten. Nachgeben von den Platten. Über uns existiert nichts mehr. Die acht Stockwerke aus Stein sind wie weggeblasen. Der Himmel von der Ewigkeit verschluckt. Die Regenrinne ragt sinnlos in die Höhe. Der Raum in der Nacht vom Bett aus gesehen besteht nur aus der Zimmerdecke. Die Vorstellung, sie könnte herunterkrachen, ist so absurd wie der Gedanke aufzustehen. Wegzulaufen. Eine Tür zu suchen. Oder einen Tisch. Und seine Beine. Sie mitzunehmen. Oder sich daran festzuklammern. Die Unruhe des Hauses ist in die Knochen und die Kochtöpfe eingegangen. Zum Glück haben wir das Gas abgestellt. Ein isolierter Gedanke. Weil wir nach Tokyo fuhren. Eine in sich abgeschlossene, nutzlose Logik. Die Küchenschränke lassen sich erst wieder öffnen, wenn das Geschirr zur Ruhe gekommen ist. In Japan gibt es kein zerschlagenes Porzellan. Tanizaki Jun’ichiro stellt schlüssig dar, warum Misosuppe in eine schwarze Lackschale gehört und nicht auf einen weißen Serviceteller. Die Menschen können erst wieder gehen, wenn die Gedanken in Ordnung gekommen sind. Der Kopf wird erst richtig wach, wenn das Tageslicht draußen angebrochen ist. Und der Himmel sich wieder herablässt. Im Traum hört das Gefühl des unfesten Bodens unter den Füssen nie wieder auf. Der Rücken und der Hinterkopf liegen auf Wellen auf. Die Nackenmuskulatur ist so elastisch wie das gemauerte Haus. Das Haus ist nach Wien gezogen und sitzt in einer Pferdedroschke. Es besteht nur noch aus unserer Matratzenauflage und der Zimmerdecke darüber. 
  Das zweite Erdbeben .

Um 04:46 Uhr saßen wir kerzengerade in unseren Betten. Das ganze Haus wackelte und schwankte, als ob es über das Wiener Straßenpflaster gezogen würde. Wir warteten gedankenleer, bis sich das Haus wieder beruhigte. Lagen uns in den Armen. Starrten an die Decke. Ob sie herunterkommt. Oder oben bleibt.
Statt – wie man uns bereits vor einem halben Jahr nach Berlin meldete - bei Erdbeben unter den Schreibtisch zu kriechen oder den Nachbarn zu helfen. Zu hören war nichts. Absolut nichts. Das Haus ist erstaunlich elastisch und nachgiebig. Der Schreck wachte erst Stunden später mit uns zusammen auf. Die Küchenschränke ließen sich nicht öffnen. Erdbebensicherung. Die provisorische Blumenvase ist stehen geblieben. Statik. Der Aufzug ist wegen Erdbebenschaden nicht in Betrieb. Es regnet. Es ist grau. Ich rufe Mario an. Wir fahren heute nicht nach Tokyo. 
Dienstag, Februar 15, 2005
  Lindenblüten .

Vormittagsruhe. Kontemplation ohne Hopper. Ohne Fuji. Der Himmel ist verschleiert. Die Bibliothek ist geheizt. Nach dem Mittagessen fahren wir nach Tokyo. Der Professor hat einen Termin mit der Geschäftsführerin des Ökotourismusverbandes. Und mit einer Studentin oder Doktorandin. Abends Ginza. Jazz.

Vormittags Lindenblüten. Schweizer Bio-Bergkräuter „Direkt aus unserem Berggebiet. Genuss ohne ‚wenn und aber’“. Ein Weihnachtsgeschenk von Susanna. Mit einem Löffel Wildblütenhonig. Aus dem Hundertyenshop. Auf der Etikette die englische Gebrauchsanweisung. „Do you know how to cook this honey? Our wild flower honey is best for making Juice, Coffee, Tea, Bread etc...!!”. Der Hals tut immer noch weh. Verschleimt. In der Nacht. Nach innen. Nach unten. Der Husten holt alles wieder herauf. Kein Fieber. Die englischen Übersetzungen von japanischen Haushaltssätzen sind Gold wert.

Die erste Straßenbahn sahen und benützten wir in Nagasaki. Zusammen mit dem freundlichen Professor. Danach stiegen wir allein in weitere in Hiroshima. In Okayama. In Himeji. Und überall fragte ich mich, warum diese Einwagentrams so uralt sind. Warum, wenn ausnahmsweise zwei Wagen aneinandergehängt sind, im hinteren eine Schaffnerin steht. Sie benützt ein Mikrophon und ein offenes Fensterchen zur Abfertigung. Sagt die Stationen an, kontrolliert im Blinwinkel, dass kein Kind unter die Räder kommt. Begrüßt mit leichter Verbeugung die Einsteigenden. Bedankt sich ebenso bei den Aussteigenden. Wechselt Geld. springt auf Verlangen durch den ganzen Wagen. Leistet Hilfe an der elektronischen Ticketcheckmaschine. Es gibt zu viele Menschen in diesem Land, denen sämtlich Verantwortung fortlaufend liebevoll abgenommen wird. Sogar die technische Hochentwicklung wird aus Rücksicht auf sie heruntergeschraubt. Auf ein mittelalterliches Niveau. Die Folge davon ist eine erschreckende Unselbständigkeit. Jedermann braucht jederzeit irgendjemanden, der (oder besser die) ihn an die Hand nimmt, ihm ins Ohr flötet oder pfeift (Vogelweibchen, Kuckucksruf). Ansonsten sind sie hoffnungslos verloren.

Ich setze Wasser auf für die Nudeln. Damit es sprudelt, wenn der Koch die Küche betritt. 
Montag, Februar 14, 2005
  Shall we dance? .

Valentinstag. Rhea fliegt nach LA. Der erste Schritt zu unserem Wiedersehen. Ich übe mich in positivem Denken. Der Professor ruft am Nachmittag an, dass im Economist ein Artikel über das bloggen sei. Er konnte auf seine Lieblingszeitschrift nicht verzichten. Lässt sie sich nachschicken. Zog sie heute früh auf dem Weg ins Institut aus unserem normalerweise leeren Briefkasten.

Ich setze mich in die Bibliothek. Der Economist liegt dort auf. Und entnehme dem altmodisch auf Papier gedruckten Text, dass ich eine „blogger-ie“ bin, d.h. jemand, der bzw. die ein „online journal“ führt, genannt „web log“ oder eben, vereinfacht, verkürzt „blog“. Und dieser blog soll, lese ich, spontan sein, emotional und nicht immer politisch korrekt. Na bitte.

Kaum postete ich in die „blogosphere“, dass ich alle Zahnärzte Japans ohrfeigen könnte … saß am Schalter am Busbahnhof ein blutjunges Mädchen mit einer Zahnspange. Lächelte uns an und schüttelte den Kopf. Weil es das nicht gab, was wir wollten. Seither sehe ich überall nur noch Zahnspangenmünder. Kaum posaunte ich in die virtuelle Welt hinaus, dass Ausländer in Japan stolz darauf sind, die Landessprache nicht zu beherrschen, spricht der Bielefelder fließend Japanisch. In der Nacht. Kaum hielt ich eine Fremdmeinung fest, dass uns Westlern hier der Zugang zur östlichen geistigen Welt versperrt bleibe, erkenne ich rundum Doppelleben. Verschwiegenheiten. Geheimnisse. Räume hinter Räumen. Spiegel in Spiegeln.

Wichtig ist, was nicht gesagt wird. Erklärte die Übersetzerin Véronique in Mito und redete schamlos in die Mittagspause hinein. Ich erinnere mich an den äußerst melancholischen japanischen Film „Shall we dance?“. Kürzlich in Otaru sah ich vom Sightseeingbus aus diese drei Wörter auf einer Fensterscheibe im zweiten Stock kleben. In irgendeiner Strasse. Unscheinbar. Weiß wie der Pulverschnee von Hokkaido. An irgendeinem Gebäude. Was mir von dem Film im Kopf geblieben ist (viel Trauriges, Stummes, ein unendlich ästhetisches Gefühl) hat überhaupt nichts mit dem Japan vor meinem Fenster zu tun. Mit dem Winterreisfeld. Dem gefrorenen Boden. Und der unverdrossenen Valentinstagsonne. Ich habe hier noch kein einziges Gefühl erfahren. Auf der Strasse. Im Shinkansen. Auf den Inlandlfughäfen. Im Jumbojet. Die Stewardess sah aus wie aus einem kolorierten ukiyo-e (japanischer Holzschnitt) herausgefallen. Ich glaubte ihr keine Sekunde ihr dienendes Tun. Wir saßen am Notausgang und hatten viel Beinfreiheit. Während der Start- und Landephase nahm sie uns gegenüber Platz. Sie sprach fast die ganze Zeit in den Telefonhörer an ihrem Sitz. Sie sagte mindestens hundertzwanzigmal „hai!“ und nickte dabei. Lächelte. Ein eiskaltes Gesicht. Schön. Abweisend. Eiskalte lange Beine. Elegant aneinander gelegt. Eiskalte Fingernägel. Die restliche Zeit des Fluges waren sie und ihre Kolleginnen in Schürzchen damit beschäftigt, den Müll der Fluggäste einzusammeln und schwarze Müllsäcke zuzubinden. Ich verstand überhaupt nicht, wie so viel Müll zusammenkommen kann auf einem Flug, bei dem nichts zu essen serviert wird, kein Alkohol, jeder nur einen Pappbecher vor die Nase bekommt mit einem wahlweise heißen oder kalten Getränk.

Shall we dance. Heute bekommen in Japan die Männer von den Frauen Schokolade. Ich habe stattdessen neben den üblichen drei Hemden noch eine Hose gebügelt. Morgen fahren wir überraschend nach Tokyo. 
Sonntag, Februar 13, 2005
  Sonntags geöffnet .

Der neue Mond liegt schmal am Himmel. Der Professor findet heute in seinen Unterlagen die interkulturelle Erklärung für meine zunehmenden Männergehässigkeiten in diesem Land.

Kürzlich etwa, mitten in der Nacht, sprang der Bielefelder DAF-Mensch im letzten Moment auf den Bus in Haneda auf. Wie eine Kafkakarikatur. Zu groß gewachsen und nervös wie alle Europäer, die längere Zeit in diesem Land leben. Kopflos wie kein Japaner. Ruhelos wie die deutsche Professorin auf Miyajima. Sie klimperte während des ganzen erlesenen Abendessens mit den Fingern der rechten Hand an ihrem mit dem üblichen Schulmädchenkitsch behängten Handy herum. Geschlagene zwei Stunden lang. Beherrschte ich mich. Schlürfte Austern. Delektierte Sashimi. Pickte Tsukemono und salzigsaure Umeboshi. Wartete auf Reis und aß Fisch. Der DAF-Mann bombardierte uns, was kein Japaner je täte, mitten in der Nacht mit einem japanischen Satz. Wiederholte ihn stur mehrmals wörtlich. Auswendig gelernt. Verzog sich dann in die hinterste Reihe. Und warf uns denselben Satz beim Aussteigen in Tsukuba nochmals dreimal an den Kopf. Zum Glück hatte er etwas im Bus vergessen, so dass wir ihn los waren.

Grażyna erkundigte sich vor Wochen aus Warschau nach dem geistigen Leben in Japan. Sie hat bis heute keine Antwort erhalten. Ich sehe nichts und spüre nichts. Die Geologin in Beppu meinte, uns bliebe der Zugang versperrt. Zu jeder anderen Welt. Als der sichtbaren der Straße. Des Tokyoter erdbebengesicherten Untergrunds. Der kreuzungsfreien Shinkansentrassen. Das glaube ich nicht. So schnell wie in Japan habe ich noch nirgends Menschen riesige Portionen von Reis und Nudeln aufessen gesehen. So schnell wie in Japan habe ich noch nirgends Gläubige ihr Gebet verrichten gesehen. An jeder Straßenecke in Peking, in jedem verrunzelten Gemüsefrauengesicht erlebe ich mehr Geistigkeit als in diesem zubetonierten Land des Lächelns. Verborgen bleibt mir vieles. Mit Augen und Verstand verstehe ich so wenig wie in kaum einem anderen Land. Unsere Wangen sind immer noch warm vom gestrigen Ausflug. In der Luft liegt immer eine unendliche Gleichgültigkeit. Selten freut sich jemand, dass wir da sind. Trotz der lautstarken Dankes-, Willkommens- und Abschiedsbeteuerungen allerorten.

Japan. Die Europäer in diesem Land sind nervös und hyperaktiv. Die Japaner in diesem Land sind apathisch und schlafwandlerisch.

Der Professor zitiert mir einen Gewährsmann. Dass Japan Deutschland, der Schweiz, ja sogar den USA kulturell näher stehe als beispielsweise China. Außer (erhobener Zeigefinger) bei der Maskulinität. Bei der Rolleneinweisung von Frau und Mann. Bei der Behauptung der Unausweichlichkeit des Daseins auf der Grundlage dessen, ob ein Mensch als Mann oder Frau geboren wird. Japan gehört, zitiert der Professor in seiner Sonntagsansprache den Kollegen, zu den Ländern auf der Welt, in denen diese Idee der Rollenfixierung nach Geschlechtszugehörigkeit noch am ausgeprägtesten ist. Dies tröstet mich wenig. Mein Hauskoch versichert mir, dass es voraussehbar war, dass ich auf die Maskulinität so gereizt reagieren würde. Ich würdige ihn keines Blickes mehr. Er lädt mich zum Essen ins Sakura-ann ein. Er hat keine Lust, am Sonntag zu kochen. Ich kann und will nicht kochen. Wir essen Tempura-udon. Anschließend kaufen wir bei Kasumi zwei Kiwis und eine Zitrone (Halsbrennen seit gestern) und vier große Becher weißen Joghurt, haltbar bis zum 27. Februar. Unter dem gewölbten Plastikdeckel liegen, das wissen wir mittlerweile, 15 Gramm gestiefelter Zucker, abgepackt und beschriftet. Wir nehmen am Ausgang drei leere Kartons mit. Wir müssen Papiere, Bücher, Prospekte, alles Leserliche und Unleserliche, Verständliche und Unverständliche nächste Woche wegschicken. 
Judith Arlt in Japan. -- Es hat mich in ein Land verschlagen, das sauberer ist als die Schweiz. -- Zu einer Jahreszeit, die ich lieber bei den wildlebenden Kaiserpinguinen auf dem Meereis in der Weddel See verbringen würde. -- Als begleitendes Familienmitglied eines Research Fellows der Japan Society for the Promotion of Science. -- Judith Arlt in Tsukuba Science City, Präfektur Ibaraki.

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