Telegramm: Gestern früh füllten wir den ersten „absence report“ im Ninomiya-House aus. Keine Schikane. Sondern fürsorglicher Wunsch der Feuerwehr: sie will immer wissen, wer in welchem Haus schläft. Wir fuhren über Ueno/Tokyo nach Utsunomiya nach Nikko, schliefen im „Turtle Inn“ und wachten heut früh im tiefsten Schnee auf. Der Reihe nach in Kürze (wir sind eben müde zurückgekommen):
14.1. Erste Fahrt mit Shinkansen (japanischer ICE) von Ueno nach Utsunomiya (40 Minuten), vom zweistöckigen Waggon aus bunte Dächer gesehen. Japan ist von oben blau, rot, grün und leuchtet! In Utsunomiya Sonnenschein, die Stufen zum Fukaara-Schrein hinauf schwitzen wir regelrecht, oben schlürfen wir gierig Wasser aus der heiligen Quelle. Wildhundeschrein. Heilige Glocke. Auf dem Weg zum Mittagessen Badekappen gekauft, dann Spezialität des Ortes (der in keinem Reiseführer auftaucht) gegessen: Sui Gyoza. Chinesische Wasserteigtaschen. Mit Anleitung des Kochs (wie scharfe Sauce mit Sojasauce mit Essig zu mischen ist und die Teigtaschen mit Stäbchen darin zu tunken). 15 Uhr Termin bei Prof. Nagai von der Fakultät „Civil Engineering“. 16 Uhr Ende. Prof. N. hat Meetingin Nikko, nimmt uns im Auto mit. Fahrt durch die längste Zedernallee im Flachland (?) der Welt (Eintrag im Guinness Buch der Rekorde). Einquartierung im Turtle Inn. Bezug eines japanischen Zimmers. Bergluft. Bachrauschen. Abendessen: Yuba. Spezialität von Nikko, verschiedene Tofu-Arten mit einem Gläschen Sake aus Nikko (kalt, schmeckt aber auch gut).
15.1. Schnee – keine Sonne. Tempelrundgang. Rinnoji-Tempel, Garten im Schnee, 3-Buddhahalle auf Strümpfen (morgen hat uns der Schnupfen wieder), Toshogu-Schrein, grosses Torii, fünfstöckige Pagode, Stall mit 3 Affen (nichts schlechtes hören, nichts schlechtes sehen, nichts schlechtes sagen), Dämmerungstor, Schlafende Katze, 200 Stufen hoch zur Grabstätte von Tokugawa Ieyasu, Halle des Drachengebrülls, Futarasan-Schrein, Taiyuin-Schrein für 3. Tokugawa Shogun. Mit dem Bus in die Berge, 20 Serpentinen hoch auf 1.300 müM. Es schneit immer heftiger. Chuzenji-See, Kegon Wasserfall (mit Lift 100 Meter in die Tiefe, Gespräch über Goethe und den Rheinfall, darüber den Bus nach Nikko verpasst). 28 Serpentinen nach Nikko zurück (Einbahnstrecken, die eine Strasse führt hoch, die andere runter – wie auf Maui). 16.21 Uhr mit Spacia (Privatbahn) nach Asakusa/Tokyo. Während der Fahrt die ersten zwei Lektionen Katakana-Zeichen bewältigt. Kann jetzt schon „ramen“ (chinesisische Nudelsuppe) und „aran“ (= Alan, der Name von Jeannettes britischem Ehemann) lesen und schreiben. 19 Uhr mit Bus nach Tsukuba. Der Schnee ist in strömenden warmen Regen übergegangen. Alles weitere morgen. Die Wochentage werden endlich vervollständigt.
Nikko nikko – übrigens – heißt hierzulande lächeln.
Ich hielt in der Früh Zwiesprache im neunten Stock aus dem Fahrstuhl heraus mit Fujiyama. Er war gnädig und nickte mir mehrmals leise zu. Der Professor ist in Matsudo, hält seinen Vortrag und wird durch die Gegend kutschiert. Ich hätte mitfahren dürfen, verzichtete aber gerne. Dort gibt es keinen der drei schönsten Gärten. Neben dem bereits abgeschrittenen Kairaku-En sind die beiden anderen Kenroku-En in Kanazawa (besichtigen wir am 22. Januar) und Koraku-En in Okayama (besuchen wir auf der Rückreise von Beppu in den letzten Januar- oder ersten Februartagen). Nach einem Tokyoausflug brauche ich dringend meine Hausfrauenidylle mit Waschmaschine, kalter Bibliothek, Blick auf den Tsukubasan, sowie alle paar Stunden einen Lift in den neunten Stock. Denn das Licht ist wichtig. Und der Sonnenstand. Sowie ein gleichbleibendes Objekt. Nicht nur für Hopper. Auch für mich. Das Experiment heute: Bettwäsche. Da keine Leintücher zum Wechseln im Inventar des Apartments 2108 vorgesehen sind, wäscht die Hausfrau in der Früh und hofft auf starken Wind wie gestern im Ueno-Park, damit er auf dem Balkon die Wäsche vor dem Eindunkeln trockenreibt. Dabei kommt zum Vorschein auf und unter was wir eigentlich schlafen. Auf einer dicken Matratzenauflage aus reiner Schurwolle. Unter einem Leintuch und einer in einen Bezug gebundenen (im wahrsten Sinne des Wortes) Wolldecke und unter einem dicken Federbett. Ergibt pro Bett 4 Stück Wäsche. Ohne Kissen. Zuviel für die Waschmaschine und für die Trocknungskapazitäten an den Wäschestangen auf dem Balkon. Also wird heute das Bett des Herrn abgezogen und abends frisch bezogen. An der festgebundenen Wolldecke hätte meine Glarner Großmutter ihre wahre Freude gehabt. Die Wolldecke ist an allen vier Ecken mit kleinen Schlaufen ausgestattet – der Bezug entsprechend an allen vier Ecken mit Leinenbändel. Damit wird die Wolldecke in den Bettbezug festgebunden und verrutscht nicht, außer der Schlafende träumt so heftig und wälzt sich auf der Schurwolle, dass die ganze schwere Daunenherrlichkeit darüber auf dem nachts kalten Fußboden landet.
Der diesjährige Reis ist natürlich noch nicht gepflanzt in der Kanto-Ebene. Was auf den Feldern vor unseren Fenstern sprießt, ist Wintergemüse. Wir seien mitten in der Erdbeersaison, erklärte mir Aoki-san. Ich muss ziemlich verdutzt in die Welt geguckt haben, denn er schob nach „natürlich im Treibhaus“. Ach. Treibhäuser im größten Reisfeld des Landes. Warum nicht. Hier wohnen die reichsten Bauern, und scheint die Sonnen täglich länger als anderswo. Ideal für Wintergemüse und Treibhauskulturen. Im Kasumi verkaufen sie halbe abgepackte Eisbergsalate. Viertelweise Rettich. Einzelne Zwiebeln und Apfelschnitze. Die kleinen Portionen, haben wir nachgerechnet, sind nicht teuerer als die großen. Was aber macht man mit einem halben Eisbergsalat? Fragte mein Professor zum ersten Mal wirklich verstört.
Ich habe nichts mitgenommen aus Berlin. Nur meinem Computer und das Moleskine, das mir Maria K. zum Geburtstag schenkte. Noch scheue ich aber davor zurück, es zu benutzen. Notizen hineinzuschreiben. Noch weiß ich überhaupt nicht, was ich hier will. Vögel. Vielleicht. Mein Gekritzel landet unsortiert auf losen Seiten eines Memo Pads. Im Dreierpack im 100-Yen-Shop erstanden. Unbedenklich vernichtbar.
Wenn zu perfekt,
liebe Gott böse!
Nam June Paik
Vor ein paar Tagen wurde mir die Stille tagsüber zu schwer. Wir radelten zum CD-Laden und kauften Shamisen-(3-saitige Laute) Musik. Und weil wir schon da waren, auch Stockhausen, die 12 Melodien der Sternzeichen. Und etwas unbekanntes „Women Write Music“, Orchestermusik von Elizabeth Maconchy, Chen Yi, Tera de Marez Oyens, Jean Coulthard, Tania Leon, Nicola LeFaun, Barbara Kolb, Germaine Tailleferre, Doreen Carwithen. Wenn ich allein bin, mag ich nur die Laute.
Gleich geht die Sonne unter. Morgen fahren wir nach Utsunomiya. Mit dem Shinkansen von Ueno aus. Dauert eine knappe Dreiviertelstunde. Der Professor hat dort ein Gespräch, danach fahren wir sofort weiter nach Nikko. Wo wir in einem traditionellen japanischen Hotel übernachten. Übermorgen erkunden wir die Stadt und kommen zurück.
Tokyo II: Wir fahren diesmal mit dem Stadtbus bis zur nächsten, südlich von Tsukuba gelegenen Bahnstation Hitachino-Ushiki. Nehmen dort einen Vorortzug bis zur Ueno-Station in Tokyo. Alles, was wir hier zum ersten Mal machen, erweist sich als mittleres Abenteuer. Wie fährt man Bus in Tsukuba? Bisher sind wir durch unsere Wissenschaftsstadt ohne Bahnanschluss entweder marschiert oder geradelt. Die nächstgelegene Haltestelle hat mein wendiger Reiseleiter schon gestern Abend ausfindig gemacht. Ich gestehe: ich hätte sie nie gefunden! Gut versteckt am Straßenrand hinter einer, vom Trottoir aus gesehen, auf dem sich die Fußgänger bewegen, hohen, dichten immergrünen Pflanzenrankenwand. Der Durchgang von Gehweg zur Bushaltestelle wurde, bestimmt gegen den Willen der Stadtgärtner, vom Fußvolk in den letzten zwanzig Jahren freigetrampelt. In den Bus steigen wir wie die Japaner gehorsam in der Mitte ein. Nehmen uns ein Ticket, das uns ein klingelnder Automat entgegenstreckt. Darauf sind die Nummer der Haltestelle (in unserem Fall die 7), das Datum (17.1.12 = 12. Januar des 17. Jahres der Heisei-Ära von Tenno Akihito) sowie ein paar unverständliche Kanji-Zeichen aufgedruckt. Bezahlen und Aussteigen werden wir vorne. Beim Fahrer. Wir sind angehalten, den Fahrpreis selbst von einer Tabelle über seinem Kopf abzulesen. Indem wir die 7 suchen und die rotleuchtende Zahl darunter erkennen. Dann werfen wir den entsprechenden Betrag mitsamt den Tickets in eine dafür vorgesehene Plastikbox zu Linken des Fahrers, die aussieht wie die Münzsammelstationen an allen Flughäfen der Welt von Ärzte ohne Grenzen. Wer nicht genug Kleingeld hat, kann sich von der seltsamen Maschine größere Münzen oder Geldscheine wechseln lassen. Also füttern wir zuerst einen Schlitz mit dem 1000-Yen -Schein, klauben dann einen Haufen Münzen aus der Schale heraus und werfen genau abgezählte 880 Yen in die Plastikbox. So etwas muss einer erst mal verstehen, der kein Japanisch versteht. Und der bei den anderen Fahrgästen nichts abgucken kann, weil die bereits verschwunden sind. Die warfen eine Handvoll Irgendwas Irgendwohin. Der Fahrer kann und soll nicht nachzählen, denn das würde seine Passagiere beleidigen. Nur bei uns Verständnislosen dauerte das Aussteigen und Bezahlen eine Ewigkeit, fast hätten wir den Zug nach Tokyo verpasst. Der Fahrer weigerte sich standhaft, unsere Münzen oder unseren Geldschein anzufassen und selbst Hand anzulegen. Anderer Leute Geld ist schmutzig. Wenn das die Schweizer wüssten! Die Zugfahrt ist lang und langweilig. Der Zug voll schlafender Japaner. Wir ergattern zwei freie Sitzplätze, neben einer dicken Japanerin und einem emsig auf die Tastatur seines auf den Knien ruhenden Laptops einhämmernden Japaners, an dessen rechter Hand der Zeigefinger fehlte. Der Professor versinkt in Frommer’s Japanreiseführer. Er muss unseren heutigen Tokyorundgang planen. Ich starre aus dem Fenster und auf die Reisenden. Wundere mich über die Menschen im Winter. Über das unfeine Benehmen der Ehemänner, die sich auf jeden frei gewordenen Platz drängen und vor den Augen ihrer Ehefrauen in Sommerschuhen den Kopf auf die Brust sinken lassen und augenblicklich einschlafen. Irgendwo fährt ein gelbes Haus an uns vorbei, beziehungsweise wir an ihm. Ich freue mich, dass hier doch jemand auffallen will in dem ungebändigten Weiß, Grau, Dunkelweiß und Hellgrau, vermischt mit einem Tupfer Braun und dem daraus entstehenden berühmten japanisch dezenten Hellbeige. Die Welt ist außen wie innen farblos. Wir essen weißen Reis mit weißem Fisch. Die meisten Autos auf den Strassen sind weiß, gefolgt von wenigen schwarzen oder dunkelblauen. Die Farben rot, grün, gelb gehören den Ampeln auf den Kreuzungen.
Wir kommen mit Verspätung in Ueno an und verbeugen uns, nachdem wir unsere Fahrkarten für Freitag gekauft haben, als erstes im Ueno-Park vor dem Toshogu Schrein. Hier wird seit 1651 Tokugawa gedacht, dem Begründer von Edo (heute Tokyo), der dieses unbedeutende Dorf zur wichtigsten Stadt des Landes erhob. Riesige Stein- und Kupferlaternen säumen mit verknospten Kirschbäumen die Eingangsallee. Dem Professor lag viel daran, so hat er sich das im Bummelzug mit pädagogischem Hintersinn ausgedacht, dass ich den Toshogu Schrein in Tokyo sehe, bevor wir am Freitag nach Nikko fahren, wo sich das Mausoleum von Tokugawa Ieyasu befindet, sowie der eigentliche und viel prachtvollere Togoshu Schrein. Errichtet von Tokugawas Enkel, der angeblich keine Ausgaben scheute, um seinen großen Vorfahren zu verherrlichen. Wir machen noch einen kurzen Schlenker um den Kaneiji-Tempel, den Familientempel der Tokugawas. Dann verlassen wir bei scharfem Wind den Ueno-Park in Richtung Nationalmuseum, Kunsthochschule, Musikakademie. Steigen den Ueno-Hügel hinab in die „Tal-Mitte“ – Ya-naka. Befinden uns plötzlich im einzigen Stadtteil Tokyos, der weder von Erdbeben, noch von Weltkriegsbomben, noch von bauwütigen Architekten je zerstört wurde. Tempel an Tempel. Friedhof an Friedhof. Sauber geputzte Marmorgrabmäler. In die Höhe errichtet. Holzwassereimer – für jedes Familiengrab einer – sind ordentlich an einer Seitenwand aufgehängt. Dutzende, Hunderte. Mit Holzwasserschöpflöffel und Putzlappen. Ordentlich hinterlegt. Die Eimer sehen aus wie unsere Saunaaufgusseimer. Die Holzlöffel ähneln den Aufgussschöpfkellen, sind etwas kleiner und ordentlicher rund. Wenn die Schweizer das wüssten. Wie ein Friedhof sauber gehalten werden kann! Beim Mittagessen, Curryreis in einem kleinen Restaurant, erzählt mir der Touristikprofessor, der mich mit seinem Dienstkram Tag und Nacht beschwatzt, dass man in Japan, um mehr ausländische Touristen ins Land zu locken, nun in allen Städten die Stromleitungen unter die Erde verlegen will. Ich staune über solchen Unsinn. Mich stören die tatsächlich ungewöhnlich wirr und unordentlich in der Luft hängenden Stromkabel nicht. Auch nicht die Strommasten aus Holz. Ich sehe sie nicht. Jedenfalls nicht von der Straße aus. Erst jetzt, als ich den Kopf von meinem scharfen Curry hebe, am Tisch in der Ecke vor dem Fenster der Kneipe. Mich stört mehr, brumme ich schmatzend, dass kaum ein Straßenname zu entziffern ist. Kaum eine U-Bahnstation. Dass in keinem Reiseführer erklärt wird, dass Geld von Touristen anzufassen ekelhaft ist. Fast so schlimm, wie mit Schuhen ein Haus zu betreten. Gegenüber wird gerade ein Sarg in eine schwarze Limousine verladen. Ich verstumme und staune über die Logistik: das ganze Fahrgestell, auf dem die unscheinbare und dezent hellbeige Kiste um die Ecke biegt, findet, schwups, Platz im Innern des Leichenautos. Die Hinterbliebenen (ich nehme an, es sind sie) verbeugen mehrmals, bevor das Auto sich in den stockenden Linksverkehr einreiht. Ich weiß nicht, ob sie sich vor der Verstorbenen (ich nehme an, es war die Frau des älteren Mannes, die Mutter der jüngeren Frau, die Schwiegermutter des jüngeren Mannes) verbeugen oder vor den beiden Leichenbegleitern in weißen Handschuhen, oder vor dem Bestattungsunternehmer. Vielleicht vor allen zusammen. Vor einem nach der anderen. Der Reihe nach. Wir steigen bei Sendagi in den Untergrund, fahren mit der grünen Chyoda-Linie bis Omotesando. Die Japaner halten ihren Mittagsschlaf in der U-Bahn ab. Wir steigen um, verlieren uns nicht, fahren mit der goldenen Ginza-Linie zwei Stationen nach Westen und kommen an der Aoyama-Itchome wieder an die Oberfläche der Welt. Nun habe ich plötzlich das untrügliche Gefühl, in Tokyo zu sein. Stein auf Stein. Stil auf Stil. Von Weiß über Grau bis zu Hellbeige. Der Professor ist mit Herrn B. verabredet, ich setze mich ins Kaffee des Goethe-Instituts und trinke „Kräutertee“. Bis Hiroko und Mario kommen und begeistert von Nara erzählen. Bis der Professor vom vierten Stockwerk wieder herabsteigt. Und mir den Satz des Tages bringt. Nach Ansicht von Herrn B. (Name und Anschrift der Redaktion bekannt) verhält sich die Japanische Gesellschaft ausländischen Touristen sowie ausländischen Einflüssen jeglicher Art gegenüber wie eine Teflonpfanne. Nichts brennt an, nichts bleibt haften. Ob fünf Millionen jährlich kommen oder zehn. Man wird sie nicht freundlicher behandeln. Wir gehen indonesisch essen. Auch Trinkgeld ist nicht erwünscht. Im Land der sauberen, aber kalten Füße. Natürlich verändert der Tourismus die Welt. Braust der Professor unvermittelt auf. Flöhen nicht so viele europäische Touristen im Winter zu den freundlichen Thailändern (wir selbst, in Klammern sei’s gestanden, verbrachten unsere Hochzeitsreise auf Krabi, genau zu dieser hochheiligen Weihnachtszeit), würde sich kein Mensch um die vom Tsunami in den Ozean gerissenen Fischerhütten, Fischerkutter, Fischerskinder, Fischersfrauen, Fischersfischer von Sumatra bis Indien kümmern. Dann will er statt Nachtisch eine Digitalkamera kaufen. Mario – der Fotograf! – unterstützt ihn dabei. Erzählt, dass in Nikko bereits alle Stromkabel unter der Erde seien. Dass aber an solchen Orten trotzdem Horden von Schulkindern, Schuluniformen, Schuluniformmützen in seinen Bildern stünden. Jetzt verstehe ich endlich: die Stromkabel in der Luft stören nicht die Touristen, sondern die Fotos der Touristen. Die Amateurfilme. Die Aufnahmen für die Daheimgebliebenen. Wir stolpern durch Shibuya. Nachts ist Tokyo schöner und lebendiger als am Tag. Meist auch wärmer. Hier wuseln all die herum, die tagsüber in den unter und über der Erde ratternden Zügen schlafen. Hier hocken sie in den Pachinko-Palästen. Ich traue meinen Augen nicht und erst recht nicht den Ohren, als Mario die Glastüren aufstößt. Betäubender Lärm. Verqualmte Luft. Unermüdlich hocken sie auf Stühlchen, vor Automaten und „entspannen“ sich. Wir Westler entspannen uns beim Kochen (der Professor) oder beim Bügeln (ich) oder im Waschsalon "vor dem Wäschetrockner, in dessen großem Fenster ich die Wäsche herumschaukeln sehe ..."(der Fotograf wörtlich). Die Japaner fixieren mit schmalen Augen glitzernde Kinderglückskügelchen. Manche haben ganze pinkfarbene Plastikwaschkörbe voll des Glanzes hinter sich stehen. Es ist die innere Unruhe, die diesen Glanz in braucht. Flüstert mir Tanizaki Jun’ichiro ins Ohr.
Wie angenehm ist es, in der Nacht mit dem Bus von Tokyo-Station bis Tsukuba-Center zu fahren. Die Japaner schnarchen. Wir haben die letzten beiden freien Plätze erwischt. Und uns zwischen die schlafenden Anzüge gezwängt. Dann laufen wir unter Sternen nach Hause. Mein Koch und Reiseleiter ist auch Sterngucker. Jeden Abend zeigt er in den Himmel und sagt: „Da ist der Orion“.
Der Professor hatte seinen ersten offiziellen Auftritt heute und trabte im Anzug, nur mit USB-Stick in der Brusttasche davon. Ich bügelte drei Hemden, nähte von Hand zwei abgesprungene Knöpfe an und eine aufgeplatzte Naht zusammen, wickelt auf Vorrat Geschenke ein, holte die Hose aus der Reinigung und kaufte einen Rucksack für unseren Ausflug auf den Haleakala. Dann widmete ich mich der sichtbaren Welt. Verließ das Apartment, umrundete den Innenhof bis zum Südflügel und fuhr mit dem Fahrstuhl in den neunten Stock. Nichts zu sehen. Der Himmel ist zu hell, das graue Blau verschwimmt am Horizont zu einer dicken Dunstsuppe. Der Fuji will heute nicht mit mir reden. Überall im Land, deutet die Wetterfee im Fernsehen auf ihrer Karte mit kleinen Schneemännern plastisch an, schneit es, nur in der Kanto-Ebene wächst der Reis lachend der Sonne entgegen.
Ich höre nicht auf, mich zu wundern. Zum Beispiel darüber, dass es im Wasserkessel keine Kalkrückstände gibt. Aber heute ist Montag: getsuyobi – Tag des Mondes. Wie im Baselbiet. Und der Mond sieht chinesisch geschrieben, oder mit den japanischen Kanji, das macht keinen Unterschied, fast genauso aus wie die Sonne. Ein hochkantgestelltes Rechteck, mit einem Strich in der Mitte = Sonne. Dasselbe mit Beinchen, bzw. mit leicht nach links geschwungenen, verlängerten Längsseiten des Rechtecks = Mond. Und weil heute der zweite Montag des Jahres ist, haben wir Feiertag (siehe gestern „Seijin no hi“) und der Professor ist zu Hause. Noch pflegt er seine Verzweiflung mit der Direktübertragung der Sumokämpfe im Fernsehen. Diese Kämpfe, erklärte er mir vorhin mit leuchtenden Augen, werden den Göttern zur Freude ausgetragen. Und weiter: nicht auf die Körpermasse komme es an, sondern auf die Taktik, die Konzentration, das geistige Sammeln der Kräfte. Der Kampf sei bereits entschieden, bevor die Körper der beiden Sumoringer aufeinander stießen. Interessant. Ob das auch für andere Bereiche zutrifft? Denke ich und schweige. Wir feiern heute 133 Monate Ehe. Wir müssen die Monate zählen und feiern, sonst kommen wir nie auf einen grünen Zweig. Vor einem Monat waren wir in Köln in der Hopper-Ausstellung. Und seit bald zwei Wochen sehe ich tagtäglich vor Sonnenuntergang ein Hopperbild nach dem anderen von meinem kalten Balkon aus. Abendsonnenglühen an einem alleinstehenden Haus in der Stadt. Mittagssonnenlicht an einem alleinstehenden Haus in der Stadt. Nachmittagswolkenhimmel über einem alleinstehenden Haus in der Stadt. Frühmorgensonnenschein an einem alleinstehenden Haus in der Stadt. Schneetreiben (hopperuntypisch!) um ein alleinstehendes Haus in der Stadt. Sonne auf rauhbereiftem Gemüseacker vor einem alleinstehenden Haus in der Stadt. Sonnenuntergangsfeuer an einem alleinstehenden Haus in der Stadt. Schade, dass ich nicht Hopper bin. Und weder Pinsel noch Farbtuben besitze. Wir feierten den Tag mit einem Ausflug in die chemische Reinigung. Dort wäre heute eine Hose des Professors abzuholen gewesen. Aber die Abholquittung war vor Ort plötzlich unauffindbar. So radelten wir unverrichteter Dinge in der warmen Mittagssonne wieder nach Hause. Hier fand sich dann die Quittung in unserer bereits ansehnlichen Sammlung von Kassenbons. Auch daraus entsteht ein Kunstwerk. Und plötzlich machte sich Erleichterung breit: neben dem Datum steht auf dem Zettel erkennbar auch die Uhrzeit. Die gereinigte und bundfaltengebügelte Hose kann erst nach 18 Uhr in Empfang genommen werden. Also erledigt die Ehefrau das morgen selbsttätig. Wir feierten bereits um Mitternacht. Denn solche Momente sind unaufschiebbar im Leben. Öffneten ein halbes Fläschchen Freixenet brut. Da der Neujahrsfreixenet nicht so gemundet hatte, wie einst in Berlin oder Stralsund, beschränkten wir uns jetzt auf ein 37,5 cl Fläschchen. Etwas, was mir in Deutschland noch nie untergekommen ist. Ein halbes schwarzes Fläschchen. Gerade richtig für unsere gegenwärtige instabile Stimmungslage zwischen Euphorie, Verzweiflung und Anpassung. Die Geschmacksnerven sind erstaunlicherweise schneller als die Gedanken. Ich werde bereits süchtig nach eingelegtem Ingwer, scharfem Wasabi und rohem Fisch. Auf dem heimischen Frühstückstisch Sushi, Soyasauce, bitterer Rettich und der Tag ist gerettet. Bei La cave de YaMaYa, einem angeblichen Franzosen, kostet eine Flasche Veuve Cliquot nur halb so viel wie in Deutschland. Auch polnischen Spiritus hat er – neben dem bereits erwähnten Żubrówka aus der Puszcza Białywiejska, wo ich in einem früheren Leben mal in einen Zbyszek verliebt war – im Angebot. Weiß der unschuldig blaue Winterhimmel über Tsukuba, für wen. 96-prozentiger Alkohol! Billiger als in Warschau! Den vertragen nur polnische oder sibirische Köpfe. Wir waren, wie gesagt, vorsichtig und altersvernünftig. Kauften ein halbes Fläschchen Freixenet, froh über die Wunder und Wege der Globalisierung, und tranken es heut Nacht in trauter Zweisamkeit aus.
born in Liestal, lived in Warsaw, Berlin, Birmingham, Tsukuba, Cracow - last years in Meldorf on sea level at the Waddensea - since september 2024 in Kathmandu under the Roof of the World.