Japan2005
Mittwoch, Januar 19, 2005
  Das erste Erdbeben .

Tsuji-san berichtete heute morgen, dass gestern Abend um 21.50 Uhr die Erde in Niigata bebte. Leicht zwar. Aber spürbar in den Häusern. Nicht auf der Strasse. Das verstehe ich nicht. Wir waren in unserem Zimmer im 26. Stock. Der Professor starrte gerade auf die Nachtstadt hinunter und schlürfte Sake. Ich kämpfte mit einer Tastatur, die immer wieder auf Japanische Silben umsprang. Ich wusste nicht, warum. Weil meine Finger zu behende über die Tasten fuhren und der Kopf hinkte. Mit denken. Mit gucken. Mit erinnern. Dabei war ich so erleichtert gewesen, meinen eigenen Laptop nicht mitgenommen zu haben, denn im Hotelzimmer steht ein Flachbildschirm, Hitachi, das neueste vom Neuen, der sowohl BBC WORLD hergibt wie auch Bloggertexte frisst. Natürlich nicht gleichzeitig, was zugegebenermaßen zu einer gewissen Spannung in Zimmer 2609 zwischen 21.30 und 22.30 Uhr führte. Weshalb wir wahrscheinlich nicht bereit waren, den Konvulsionen von Mutter Erde zu folgen.

Niigata - eine seltsam seelenlose Stadt. Wir wohnen im höchsten Gebäude. Und es gibt nichts anzuschauen. Früher soll es viele kleine Kanäle gegeben haben. Ansammlungen von Wasser. Binnenseen. Transportwege. Im Winter Schlittschuhparadiese für Kinder. Die Berge im Rücken. Das Meer vor den geröteten Wangen. Das Japanische Meer heißt vom anderen Ende her, von Rajin-Sonbong aus, in der koreanischen Sprachregelung Ostmeer. Eine Bezeichnung, welche die Japaner natürlich nicht akzeptieren können, denn von Osten schwappt an ihre Insel der Pazifik. Am Strand mitten in der Stadt sind mächtige Wellenbrecher aufgetürmt. Das Wasser verhielt sich beim morgendlichen Spaziergang harmlos. Einige Fischer kratzten Seegras von den Betonteilen, welche die Ebbe gerade freigegeben hatte. Ein Stahlungetüm hievte weitere Steinbrocken von einer Stelle an die andere.

Gestern im Shinkansen die seltsame Einsicht, wie schnell wir uns an kalten Reis und kalten Fisch gewöhnt haben. Ich stehe immer noch wie ein paar Schritte neben mir. Ein Schatten meiner selbst. Und beobachte das seltsame Tun. Mit offenem Mund. Tsuji-san schlug vor, aus Zeitgründen an der Tokyo-Station ein "Lunchpaket" zu kaufen und im Zug zu essen. In Niigata, versprach sie, gäbe es bessere japanische Küche als in Tokyo. Alle Japaner, ausnahmslos alle, die aus dem Shinkansen, der den lieben langen Tag von Niigata nach Tokyo und von Tokyo nach Niigata braust, ausstiegen, trugen ihre leergegessenen Lunchpaketboxen sowie die leergetrunkenen Wasserflaschen, Bierdosen, Sakekännchen in der Plastiktüte mit, in welcher sie ihr Mittagessen, die vollen Kartons und PET-Flaschen an einer im Nordwesten gelegenen Station gekauft hatten. Sie warfen die Tüte in die dafür vorgesehene Mini-Mülltrennanlage auf dem Tokyoter Bahnsteig. Von der Belegschaft eines Waggons quoll die Tonne gleich über. Fröhliche Mädels in weißen Handschuhen erschienen auf der Stelle. Die einen verschwanden mit den vollen Müllsäcken, die anderen blieben am Ort und spannten neues Plastik auf. Jeder trägt hier seinen Dreck so lange mit sich herum, bis er eine Gelegenheit findet, ihn ordnungsgemäß abzusetzen. Wenn das die Schweizer wüssten! Im 100-Yen-Shop gibt es "portable ashtrays" zu kaufen. Mittragbare Aschenbecher. Der Shinkansen aus Niigata wurde in Tokyo geputzt, bevor die Reisende Richtung Niigata einsteigen durften. Man wartete klaglos. Nachdem die Putzkolonne den Zug verlassen hatte, drehten sich die Sitze automatisch auf der Stelle. Keiner muss hier rückwärts sitzend Zug fahren!

Wir aßen im Shinkansen kalten Reis und kalten Fisch mit Stäbchen, während Fuji draußen allmählich aus unserem Gesichtsfeld verschwand. Ich trank aus einer Plastikflasche heißen Grüntee. Und die nächsten Vulkane traten heran. Getränke aller Art, von süßer Limonade über Kaffee bis Sake, sind in kalter oder heißer Form erhältlich. Überall. An allen Straßenecken. An allen Fressbuden. In den Sakeläden. In den U-Bahnschächten. An den Bahnhöfen. Aus "Vending machines". Die übers Land verteilt in regelmäßigen Abständen auftauchen. Verordnet. Bis hinein in die Hoteletagen. Und unser Ninomiya-House. Nur das Essen ist vorzugsweise immer nur kalt. Im Nobel-Restaurant wie aus der Lunchbox. Ich verspeiste zu meinem eigenen Entsetzen mit großem Appetit kalten Reis aus der Holzimitatschachtel. Packte dann Holz und Karton und Plastik in die durchsichtige Tüte zurück, verknotete deren Griffe, trug sie in Niigata aus dem Shinkansen und warf sie auf dem Bahnsteig in die für meinen Waggon vorgesehene Mini-Mülltrennanlage.

Der Himmel zieht sich zu. Für den Nachmittag ist Regen und Schnee angesagt. Von Winter keine Spur. Der Wind war am Morgen schläfrig, die Luft lau, die Sonne blass. Das Hotelzimmer war bei unserer Ankunft auf 24 Grad vorgeheizt. Als wir die Raumtemperatur elektronisch auf 20 Grad einstellten, stellte die Air-condition auf kalte Luftzufuhr um. Am leichtesten bekleidetet sind in Japan die Kinder. Erzählte beim Mittagessen der Russe Vladimir. Je kleiner der Mensch, desto nackter. In Russland sei das umgekehrt. Überall ist das umgekehrt. Denke ich. Entsetzt wie mein eigener Schatten. Ausländer erkennt man daran, dass sie Strickjacken und Wollmützen tragen. Und kein Japanisch sprechen. Wie viele haben wir schon getroffen, vom Bielefelder DAF-Menschen angefangen bis zum Russen Vladimir, die seit Jahren in Japan arbeiten und auf die Frage, ob sie japanisch sprechen oder wenigstens lesen, entgeistert den Kopf schütteln.

Unweit des Hotels entdeckten wir gestern eine Kirche. Eine katholische Kirche, wie mir schien. Denn auf dem Dachfirst prangte ein römisches Kreuz. Nur der Springbrunnen vor dem Portal irritierte mich ein wenig. Japanischer Stil? Daneben ein langgestrecktes Gebäude, das in Italien ein Kloster wäre. Eine religiöse Einrichtung? Alles fake, zerstreute Tsuji-san unsere Bedenken. Ein Hochzeitspalast. In dem nicht einmal die offizielle Zeremonie stattfindet. Nur ein Tanzpalast. Ein riesiger Bankettsaal. Dem Heiligen Valentin geweiht. Den nicht einmal der Papst kennt. Eine angeblich christliche Mode. Zu heiraten. Im weißen Kleid. Unter silbernem Kreuz.

Das erste Erdbeben im Kopf. Kalter Reis. Heizkissen an den Fußsohlen. Blindtasten unter den Fingern. Verwirrte Buchstaben. Japanische Silbenschrift. Unentzifferbarer Bildschirm. Die seelenlose Stadt. Der Winter stammt aus Nachodka.


 
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Judith Arlt in Japan. -- Es hat mich in ein Land verschlagen, das sauberer ist als die Schweiz. -- Zu einer Jahreszeit, die ich lieber bei den wildlebenden Kaiserpinguinen auf dem Meereis in der Weddel See verbringen würde. -- Als begleitendes Familienmitglied eines Research Fellows der Japan Society for the Promotion of Science. -- Judith Arlt in Tsukuba Science City, Präfektur Ibaraki.

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