Auf den gestrigen Edelmetall-Tag folgt der heutige Erd-Tag: doyobi. Den Professor packte bereits gestern Abend die Verzweiflung. Dies ist normal, sprach aus ihm der langjährige Reiseleiter, nach der Euphorie kommt die Verzweiflung, bevor irgendwann die Anpassung einsetzt. Ich tröstete ihn, so gut ich konnte, trank tapfer ein Gläschen Sake mehr als gewöhnlich mit.
Doyobi. Dem Irdischen zugewandt. Ein bodenständiger Samstag. Unser Apartment 2108 im Ninomiya-House betreten wir durch einen langen Flur. Direkt hinter der Eingangstür eine kleine kalte Steinfläche, auf der die Schuhe auszuziehen sind. Daneben ein Schuhschrank, der mindestens 50 Paar Schuhe aufnehmen kann. Aber keine Möglichkeit, unsere manchmal schneenassen Wintermäntel aufzuhängen. Auf Strümpfen durch den weiteren, nun mit dezent hellbeigen Teppichquadraten ausgelegten Flur. Rechts zuerst das Bad, dann die Toilette und schließlich die Küche. Das geräumige Wohnzimmer öffnet sich am Ende des Flurs geradeaus auf den Balkon zu sowie nach links, bzw. nach Nordwesten. Durch eine mit japanischem Papier bespannte Schiebetür gelangt man links um die Ecke in das Schlafzimmer. Die beiden Wandschränke an der Stirnseite, das heißt ungefähr auf der Höhe der hinter der Eingangstür wartenden Lammfellschuhe, sind die kältesten Stellen in der Wohnung. Darin hängen an zwei von sechs Kleiderbügeln unsere Mäntel.
Nach unserer Ankunft am Feuertag – kayobi, legten wir uns zuerst zwei Stunden ins Bett. Erstens waren wir hundemüde, litten an jetlag. Zweitens war die Wohnung so eiskalt, dass einzig unter den dicken Bettdecken Wärme – Feuer! – zu entfachen war. Den Rest des Jahres brachten wir damit zu, Gebrauchsanweisungen zu lesen. Beginnen wir noch einmal von vorn: Das Badezimmer. Eine Hightech-Einrichtung, bestehend aus einer Nasszelle (Badewanne, Dusche sowie der einzige Spiegel in Menschengröße in der ganzen Wohnung) und einer Trockenzelle (Waschmaschine, Waschbecken darüber Spiegelschrank). Nass- und Trockenzelle in dezentem beige. Aus pflegeleichtem Mattplastik. In der Badewanne soll man keine Seife benützen. Sondern sich vorher unter der Dusche einseifen. Vom Spiegel steht nichts in der Gebrauchs- und Pflegeanweisung. Er beschlägt immer sofort. Ob man die Nasszelle als Waschraum benützt oder als Trockenraum für Wäsche. In letzterem Fall die Zwischentür zur Trockenzelle schließen und den Knopf DRY drücken, den Timer auf 6 Stunden einstellen. Es gibt für den fensterlosen Kubus aus Kunststoff drei weitere Lüftungs- bzw. Heizungsknöpfe. Und – sehr wichtig – den elektronischen Heißwasserpoint. Er ist auf 42° vorprogrammiert, heißer kann weder gebadet noch geduscht noch gewaschen werden. Die Trockenzelle kann nicht geheizt werden, Zähne putzen wir mit zitternden Händen. Hier kann nur eventuell aus der Nasszelle eingedrungener Dampf abgezogen werden. Die Waschmaschine wird von der Hausfrau bedient, ebenso wie das Bügeleisen. Dazu später mehr. Weiter zur Toilette. Der Raum soll nur mit extra Hausschuhen betreten werden. Die Klobrille ist heizbar, den Hintern kann man sich mit einem warmen Wasserstrahl besprühen lassen, dessen Stärke variierbar ist. Wer beabsichtigt, längere Zeit zu sitzen, soll die Klobrillenheizung ausschalten, um „low-temperature burns“ zu vermeiden. Aus dem Spülkasten ragt in der Mitte ein glänzender Wasserhahn heraus, dessen eiskalter Strahl nach Betätigung der Spülung das Spülbecken wieder auffüllt und Gelegenheit gibt, die Hände zu waschen. Aber bitte ohne Seife. Diese könnte einen Elektroschock auslösen. Nur der Wasserhahn glänzt in dieser Zelle. Alles andere besteht aus stumpfem Kunststoff, dezent hellbeige. Nach dem Händewaschen weiter in die Küche. Normale Einbauküche. Normaler Gasherd. Normale Abzugshaube. Normale Kühlgefrierkombination. Normale Mikrowelle, die ein Liedchen trällert, wenn der Sake warm ist, sowie nach jeweils zehn Sekunden piepsend daran erinnert, falls wir den warmen Reiswein noch nicht entnommen haben. Abnormales, überdimensioniertes Spülbecken. Ausgestattet mit einem „food waste disposer“. Essensreste und Gemüseabfälle landen in Japan nicht im Müll, sondern im „disposer“ in der Küche. Alles wird da – ins normale Abflussrohr – in fingerfoodgerechten Größen hineingestopft (außer Porzellan, Glas, Uhren usw.). Dann „Noise insulation Lid“ auflegen und Startknopf drücken. Ein ohrenbetäubendes Röhren erhebt sich, die ganze Küche erzittert. Ein Gedröhn wie von den Dreschmaschinen auf dem Bauernhof meiner Großeltern in Büren. Nach einer halben Minute wird gespült, mit OralB wie beim Zahnarzt, und dann ist alles weg. Vom Erdboden verschluckt. Deshalb stinkt es im gutsortierten Mülltrennraum in der Tiefgarage nicht. Deshalb tuscheln dort keine verliebten Mäuse und Ratten, wenn das Licht angeht.
Mehr gibt es nicht zu erzählen. Außer dass die Wohnung für japanische Verhältnisse riesengroß ist. Dass sie mit einer Fußbodenheizung ausgestattet ist, die uns das Leben wärmetechnisch erleichtert, uns aber von Hirosawa während der Einführung am Feuertag trotzdem nicht ans Herz gelegt wurde („you have to pay a lot of gas for it, I don’t recommend“). Dass die Wäsche auch im tiefsten Winter auf dem Balkon aufgehängt wird (dieselbe Hirosawa: „In Japan we dry the washing outside“), und nur bei allergarstigstem Wetter in der zum Trockenraum umfunktionierten Nasszelle getrocknet werden soll. Dass es keine Farbe gibt (außer den bunten Bildern von der Weihnachtsflut aus dem TV) und nichts glänzt. Der Professor lacht mich aus, weil ich Tanizaki Jun’ichiro glaube und lese. „Lob des Schattens. Entwurf einer japanischen Ästhetik“. Die Japaner lieben keine polierten Oberflächen. Nur in Shinjuku und auf dem Flughafen Narita habe ich es glänzen gesehen – von den blitzblanken Fußböden, über die täglich Millionen schmutziger Schuhe laufen. Aber sie mögen keine Porzellan-Klo-Schüsseln, keine Porzellan-Badewannen, keine Porzellan-Waschbecken. Keine kalkfreigescheuerten Armaturen. „Im allgemeinen werden wir von innerer Unruhe erfasst, wenn wir hell glänzende Dinge sehen“, schreibt Tanizaki Jun’ichiro und der Nachhaltigkeitsspezialist lacht mich aus, weil er dies vor etwa hundert Jahren geschrieben habe. Damals liebten sie das hosho-Papier, sage ich trotzig, „welches die Lichtstrahlen wie eine Fläche weichen, frisch gefallenen Schnees satt in sich aufsaugt“, heute den stumpfen Kunststoff. Das Prinzip bleibt und ich zitiere weiter: „In China gibt es das Wort ‚Handglanz’, in Japan das Wort ‚nare’; beide meinen den Glanz, der entsteht, wenn eine Stelle von Menschenhänden während langer Zeit angefasst, glattgescheuert wird und die Ausdünstungen allmählich ins Material eindringen. Es handelt sich also, anders gesagt, zweifelsohne um den Schweiß und den Schmutz der Hände. Jedenfalls darf nicht geleugnet werden, dass in dem, was wir als ‚Raffinement’ schätzen, ein Element von Unreinlichkeit und mangelnder Hygiene steckt. Während die Abendländer den Schmutz radikal aufzudecken und zu entfernen trachten, konservieren ihn die Ostasiaten sorgfältig und ästhetisieren ihn, so wie er ist.“
Sicherlich bieten die warmen Klobrillen auf den Toiletten des Kasumi-Supermarkts eine prima Grundlage für Bakterienkulturen aller Art. Ich setzte mich nicht darauf. Fasste sie aber mit Fingerspitzen an. Und meine Frage bleibt im kalten Raum wie eine Eisblume stehen, weshalb in diesem Land Klobrillen gewärmt werden können, die Häuser aber nicht geheizt.
Zurück zur Waschmaschine, dem Staubsauger und dem rosaroten Bügeleisen. Die Gebrauchsanleitung für die Waschmaschine ist dürftig. Ebenso die für den Spielzeugstaubsauger (zugegeben, die Japanerinnen sind kleiner als ich). Für das Bügeleisen gibt es gar keine. Nachdem alles in der Wohnung mit hunderten Warnsignalen versehen ist, besteht die Waschmaschine aus einer Trommel und einem lose darauf aufliegenden, dezent beigen (wen wundert’s?) Kunststoffdeckel. Nachdem wir an allen Ecken Tag und Nacht angehalten werden, auf unsere nie zur Welt gekommenen Kinder zu achten, kann der Deckel der Waschmaschine angehoben werden, ohne dass diese aufhört zu waschen, zu schleudern. Sie macht nicht einmal "pieps". Ein sechsjähriger Junge kann also im Übermut in das Seifenwasser hineinspringen. Aber es wird ihm nichts geschehen. Man soll in diesem Land seine Wäsche nicht heißer als mit 50° waschen. Nicht, damit das dummerweise hineingefallene Baby sich nicht verbrüht, sondern damit die Plastikteile der Waschmaschine nicht schmelzen. Das Bügeleisen ist so pinkfarben, dass mir übel wird. Missmutig bügle ich die an der frischen Winterluft getrockneten (erstaunlich: innerhalb eines halben Tages ist alles auf dem Balkon furztrocken, wie wir Schweizer zu sagen pflegen) Hemden des Professors. Wütend, weil ich keine Gebrauchsanweisung habe. Obwohl das rosarote Ding einwandfrei funktioniert, mit Dampf oder ohne. Ich fühle mich benachteiligt. Nicht für voll genommen. Was Frauen zu erledigen haben, wissen sie aus der Luft. Oder aus dem Bauch. Die ganze Hightech ist für Männer angelegt. Ich musste meine gesammelte promovierte Intelligenz aufbieten, um herauszufinden, dass hier die Waschtemperatur – variierbar eh nur zwischen 30° und 40°, aber immerhin! – nicht an der Waschmaschine, sondern am Wasserhahn eingestellt wird. Dass die Waschmaschine das Wasser nicht aufheizt, sondern heiß aus der Wand zieht. Dass aber alles nichts hilft, wenn nicht vorher die Heißwasserzufuhr elektronisch auf „on“ geschaltet wurde. Nur in Birmingham habe ich ähnlichen Irrsinn erlebt. Dort müssen die Steckdosen eingeschaltet werden, damit der Strom fließt.
Das reicht für heute. Aoki-san wartet unten. Wir gehen mit seiner 84-jährigen Mutter und einem Bielefelder DAF-Ehepaar Würstel essen.
born in Liestal, lived in Warsaw, Berlin, Birmingham, Tsukuba, Cracow - last years in Meldorf on sea level at the Waddensea - since september 2024 in Kathmandu under the Roof of the World.