Japan2005
Dienstag, Januar 04, 2005
  Der erste Arbeitstag .

Mein Nachhaltigkeitsspezialist marschierte heute früh in den ungefütterten Halbschuhen zu seinem Institut, mit dem er nicht sehr viel am Hut hat. „National Institute for Environmental Studies“. Das heißt, er nahm das Fahrrad, denn die Sonne scheint, und steckte die Begrüßungsgeschenke, von mir liebevoll eingewickelt und umbändelt, in den Einkaufskorb.

Bis gestern war hier Feiertag. Einkaufen konnten wir immer. Aber Geld wechseln oder Geld aus dem Automaten ziehen, war schwierig bis unmöglich. Die Banken waren alle geschlossen und an Feiertagen werden auch vor Geldautomaten Türen verriegelt und Rollläden heruntergelassen. Nächsten Montag ist wieder Feiertag. Volljährigkeitstag. In Tsukuba werden die zwischen dem 2. April 1984 und dem 1. April 1985 Geborenen zur „Coming of Age Day Celebration“ gebeten. Mein Tourismusexperte meint, man lege hier Feiertage seit einigen Jahren absichtlich auf Montage, um die Wochenenden zu verlängern und die Japaner zu mehr Konsum zu mobilisieren. Denn, weiß der Stipendiat aus Stralsund, die Japaner reisen zu wenig. Außerdem wird, wenn ein beweglicher Feiertag auf einen Sonntag fällt, dieser am Montag danach nachgeholt. Himmlische Zustände. Und nun hat man ihn und sein ganzes Nachhaltigkeitskonzept, das hier kaum ein Mensch versteht, zu den Umweltschützern und Naturwunderbeschauern gesteckt. Nachdem man uns sehr ans Herz gelegt hatte, bereits am 28. Dezember anzureisen, damit die zwei Monate bis zum 28. Februar für die Wissenschaft voll werden. Obwohl bis zum heutigen Tag keiner da war, keiner arbeitete, keiner forschte, keiner fragte, keiner wissen wollte, wie, wo und warum oder weshalb. Der Mensch, der im Institut für Umweltforschungen für Finanzen zuständig ist, hat zudem Urlaub bis zum 11. Januar. Wahrscheinlich, weil seine Tochter am 27. November 1984 geboren wurde und nun am 10. Januar volljährig wird. In Tsukuba gibt es keinen einzigen Geldautomaten, der eine nicht in Japan ausgestellte Visa-Karte akzeptiert. In Tokyo fanden wir vorgestern nach eineinhalbstündigem Herumirren an der Tokyo Station, bevor wir Mario in Nihonbashi umarmten, die einzige Wechselstube, die an diesem Tag offen und mit einer funktionierenden Umrechnungsmaschine ausgestattet war.

Derweil setzte ich mich – eh ich die Pflichten der begleitenden Ehefrau erfüllte – in die eisgekühlte Bibliothek im Ninomiya-House. Ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, dass hier, wo die Internet-Computer stehen und ein paar wenige Bücher in den Regalen liegen, internationale Zeitungen vom letzten Jahr herumhängen, die Temperatur konsequent unter der Außentemperatur gehalten wird (zum Winter in Japan, wie gesagt, später mehr). Im Tagesspiegel online las ich, dass heute in Berlin die Sonne um 8.16 Uhr aufgegangen ist, bzw. aufgehen wird. Also eine Minute später als am 21. Dezember, am Tag der Wintersonnenwende, dem vermeintlich kürzesten Tag des Jahres. Obwohl ich jämmerlich fror, denn ich hatte die Handschuhe in unserem Apartment vergessen, konnte ich mir ein schadenfreudiges Schmunzeln nicht verkneifen. Die Sonne geht in Tsukuba mindestens eine Stunde früher auf als in Berlin (vor 7 Uhr Ortszeit) und etwa eine Stunde später unter (gegen 17 Uhr). Aber damit nicht genug: Seit unserer Ankunft war sie täglich, außer an den zwei Schneegestöbertagen, zwischen acht und neun Stunden am klaren Himmel zu sehen. So auch heute. Also keine Spur von Winterdepression in Tsukuba! Wie es kommt, dass auch noch vierzehn Tage nach der Wintersonnenwende die Sonne in Berlin später aufgeht als am kürzesten Tag des Jahres, kann im heutigen Tagesspiegel nachgelesen werden. Nicht sehr überzeugend. Leider. Das Fazit ist lapidar: „Gefühle täuschen also nicht: Es ist etwas durcheinander gekommen in den letzten Tagen.“ Was durcheinander gekommen ist, wird nicht weiter ausgeführt. Dabei wissen wir doch mittlerweile alle, dass das Seebeben vor der Küste der indonesischen Insel Sumatra die Erdachse bis zu 8 Zentimeter gegenüber der Sollposition verschoben und die Rotation der Erde beschleunigt hat. Seither sind unsere Tage – nach Meinung von Berner Geophysikern – um den „nicht fühlbaren, aber messbaren“ Betrag von einigen Mikrosekunden, d.h. einigen Millionstel Sekunden kürzer. Und die nordwestliche Spitze Sumatras wanderte gute 35 Meter nach Südwesten, die ganze Insel wurde auf der einen Seite um etwa 30 Meter angehoben, auf der anderen Seite rutschte sie entsprechend in den indischen Ozean. Während kleinere Inseln der Region um etwa 20 Meter nach Südwesten geschoben und höher über den Meeresspiegel angehoben wurden. Wir sind alle aus der Bahn geworfen worden. Die Japaner übrigens, so scheint es mir, haben für die Tsunami-Opfer nur gerade ein mildes Lächeln übrig. Man baut hier erdbebensichere Wolkenkratzer und weiß mit Naturgewalten umzugehen, ignoriert den Winter und tut so, als ob es das ganze Jahr über Hochsommer wäre. Wieder sind aber 3 Japaner an den traditionellen Neujahrsreisbällchen erstickt. Trotz Empfehlungen der Regierung und des Kaisers höchstpersönlich, die klebrigen Klumpen in Teile zu zerlegen und nicht als ganzes in den Mund zu stecken.

Dann versuchte ich noch, von Ursula in einer email daran erinnert, während die Waschmaschine einen Schongang durchlief (auch dazu später mehr, unter dem Titel „Das rosarote Bügeleisen“), mein morgendliches Tai Chi zu absolvieren. Norden, hatte mir mein höchstpersönlicher Reiseführer und Privatkoch erklärt, ist dort, wo der Berg steht. Das ist für eine Schweizerin die einzig wahre Himmelsrichtung. Der Berg. Der hier so heißt, wie die Stadt: Tsukuba. Eines Tages werde ich Tsukuba bezwingen, denn hier gelten die Jahreszeiten nichts und herrscht ewiger Sonnenschein. Da aber der Berg in der Diagonale unseres Zimmers steht, kam ich völlig durcheinander. Beim Wolkenschieben wurde mir bewusst, dass ich die Wolken nicht nach Westen schob, sondern nach Süden. Und gab schnell auf. Denn bestimmt zieht dies großes Unheil nach sich. Der Schongang läutete bereits das Ende ein. Wie alles in dieser Wohnung, fängt auch die Waschmaschine zu singen an, wenn eine Einstellung fertig ist. Insgeheim war ich froh, den Kicks mit der Aussenkante für dieses eine Mal entkommen zu sein.

Alles weitere morgen früh. 
Comments: Kommentar veröffentlichen

<< Home
Judith Arlt in Japan. -- Es hat mich in ein Land verschlagen, das sauberer ist als die Schweiz. -- Zu einer Jahreszeit, die ich lieber bei den wildlebenden Kaiserpinguinen auf dem Meereis in der Weddel See verbringen würde. -- Als begleitendes Familienmitglied eines Research Fellows der Japan Society for the Promotion of Science. -- Judith Arlt in Tsukuba Science City, Präfektur Ibaraki.

ARCHIVES
12/26/2004 - 01/02/2005 / 01/02/2005 - 01/09/2005 / 01/09/2005 - 01/16/2005 / 01/16/2005 - 01/23/2005 / 01/23/2005 - 01/30/2005 / 01/30/2005 - 02/06/2005 / 02/06/2005 - 02/13/2005 / 02/13/2005 - 02/20/2005 / 02/20/2005 - 02/27/2005 / 02/27/2005 - 03/06/2005 /


Powered by Blogger