Japan2005
Dienstag, Januar 11, 2005
  Die sichtbare Welt .

Der Professor hatte seinen ersten offiziellen Auftritt heute und trabte im Anzug, nur mit USB-Stick in der Brusttasche davon. Ich bügelte drei Hemden, nähte von Hand zwei abgesprungene Knöpfe an und eine aufgeplatzte Naht zusammen, wickelt auf Vorrat Geschenke ein, holte die Hose aus der Reinigung und kaufte einen Rucksack für unseren Ausflug auf den Haleakala. Dann widmete ich mich der sichtbaren Welt. Verließ das Apartment, umrundete den Innenhof bis zum Südflügel und fuhr mit dem Fahrstuhl in den neunten Stock. Nichts zu sehen. Der Himmel ist zu hell, das graue Blau verschwimmt am Horizont zu einer dicken Dunstsuppe. Der Fuji will heute nicht mit mir reden. Überall im Land, deutet die Wetterfee im Fernsehen auf ihrer Karte mit kleinen Schneemännern plastisch an, schneit es, nur in der Kanto-Ebene wächst der Reis lachend der Sonne entgegen.

In der kalten Bibliothek lese ich, dass während der Edo-Periode (1603 – 1867) das Shogunat unter Tokugawa Ieyasu in Edo (heute Tokyo) errichtet wurde und der Kaiser in der alten Hauptstadt Kyoto entmachtet mit seinem ganzen kunterbunten Hofstaat zurückblieb. Tokugawa soll von seinem neuherrschaftlichen Palast aus bei klarem Wetter in die eine Richtung – nach Süden – den Fujiyama gesehen haben und in die andere, nach Norden, den Tsukubasan. Meinen Berg. Vor meinem Fenster. Das war damals die ganze sichtbare Welt, die Tokugawa uneingeschränkt überblickte und beherrschte. Ich beherrsche nichts. Und überblicke nichts. Trage meinen Laptop aus dem fußbodenwarmen Apartment in die kalte Bibliothek, schließe ihn an ein Internetkabel an und lese, wer mir geschrieben hat, während ich schlief.

Tsukuba, die künstliche Akademikerstadt, liegt schräg in der Welt. Angeblich wählten die Stadtplaner vor vierzig Jahren den unfruchtbarsten Boden aus. Und der befand sich zwischen zwei von Nordwesten nach Südosten abfließenden Gewässern. Sakura-gawa im Osten und Kokai-gawa im Westen. Zwischen den beiden Flüssen wurden geometrische gerade Straßenzüge, Straßenkreuzungen, Zebrastreifen, Fußgängerübergänge und Fahrradwege angelegt, die sämtliche Bauernhütten und noch zu errichtenden Forschungsinstitute, Wissenschaftlerwohnungen, Kindergärten und Krankenhäuser erschlossen. Alles in relativer Schieflage. Und objektiver Rechtwinkligkeit. Die Tsukuba Universität, an der mein Professor und Privatkoch heute einen Vortrag über sein Lieblingsthema „Sustainable Tourism Development in Western Europe and in East Asia“ hielt, wurde am 1. Oktober 1973 gegründet. Das Gelände des Campus wird in regelmäßigen quadratischen Abständen von Highways durchschnitten. Die Strassen wurden vor den Häusern gebaut. Die Stadt Tsukuba erstand offiziell erst am 30. November 1987 aus den Reisanbaudörfern Oho-machi, Toyosato-machi, Yatabe-machi und Sakura-mura, am 31. Januar 1988 schloss sich der neuen City auch noch Tsukuba-machi an. Die am Tsukubasan beheimatete Eule „tsukutsuku“ wurde, wohl aus onomatopoetischen Gründen, zum Maskottchen der Stadt ernannt. Auf der Internetseite von Tsukuba Science City steht geschrieben, diese Eule sei die Philosophin des Bambuswaldes und symbolisiere Weisheit und Zungenfertigkeit. Die Möchtegernwelt.

Der Professor kam erst spät nach Hause und brachte mir ein Geschenk aus der Universitätsbuchhandlung mit: „Easy Katakana. How to Read Non-Japanese Loanwords.“ Heute ist Feuertag, kayobi. Den hatten wir bereits des öftern. Die Hausfrau bekommt Hausaufgaben. Muss ab morgen für ihre täglichen Hauseinkäufe Katakana lesen lernen. Fürs erste ist sie hungrig und übel gelaunt. Denn der Koch wirkt lustlos. Wir gehen schließlich zu Hang A Ri, dem Koreaner um die Ecke, wo wir am ersten Abend, vor genau zwei Wochen, durchfroren und mit jetlag erschrocken eine kalte Nudelsuppe löffelten. Heute wollen wir eine heiße Nudelsuppe bestellen. So weit sind wir mittlerweile vorgestoßen. In der Lesefähigkeit von Speisekarten. Denkste. Die Speisekarte ist bunt und neu wie das Jahr 2005, die Krixelkraxel sind vollkommen anders sortiert. Wir wählen nach den Abbildungen. Essen so etwas wie koreanische Emmentalerrösti (schmeckt hervorragend! Fein geriebene gebratene Kartoffeln mit scharfem Gemüse und Tintenfisch) und Kimchi. Morgen früh fahren wir nach Tokyo.

 
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Judith Arlt in Japan. -- Es hat mich in ein Land verschlagen, das sauberer ist als die Schweiz. -- Zu einer Jahreszeit, die ich lieber bei den wildlebenden Kaiserpinguinen auf dem Meereis in der Weddel See verbringen würde. -- Als begleitendes Familienmitglied eines Research Fellows der Japan Society for the Promotion of Science. -- Judith Arlt in Tsukuba Science City, Präfektur Ibaraki.

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