Japan2005
Sonntag, Januar 30, 2005
  Huis ten Bosch .

28.1.2005

Telegramm Huis ten Bosch: um 9.23 Beppu ab. Abschied von Patricia und Malcolm am Bahnhof, nach Kaffee und Toast mit Beschallung (lautes Vogelgezwitscher und laute westliche Musik). Fahrt nach Fukuoka (bzw. Hakata - jetzt fangen die Bahnhöfe an, andere Namen zu haben als die Städte, in denen sie liegen und zu denen sie gehören, was uns das Leben nicht leichter macht), dort umsteigen nach Huis ten Bosch. Ankunft 13.04 Uhr. Mittagessen (O-Bento) im Zug. Der freundliche Professor Ikenaga holt uns ab. Quartiert uns im Nikko-Hotel ein. Es ist heiß und sonnig. Wir können das Zimmer noch nicht beziehen. Ich ziehe meine dicke Strumpfhose auf dem Klo aus. Fahrt zur Universität (Nagasaki International University in Sasebo), das erste aufgeräumte Arbeitszimmer. Schöner Blick auf Berge. Prof. I. studierte in der Schweiz und in Österreich, promovierte über die Almwirtschaft im Tirol. Dann Besichtigung von Huis ten Bosch. Eine holländische Stadt, am nordwestlichsten Zipfel von Kyushu. Benannt nach dem Sommersitz von Königin Beatrix. Mitten im Niemandsland. Eine Stunde Autofahrt von Nagasaki entfernt. Mit Bootshafen und Blick auf das ostchinesische Meer. Man denkt, man spinnt. Ist übergeschnappt. Wegkatapultiert. Befindet sich nicht nur im falschen Film, sondern auch auf dem falschen Planeten. Eine vollkommene Scheinwelt. Disneyland. In Form von Holland 1:1. In Japan. Windmühlen. Stadtviertel. Der Utrechter Dom. Bürgerhäuser. Kanäle. Bushaltestellen. Bootsanlegestellen. Von der Turmspitze des Doms aus sieht man leider, dass die Backsteinfassaden nur angeklebt sind. Aus Pappe, wie es scheint. Dass sich dahinter hässliche Betonteile verbergen. Aber alles echt. Authentisch. Für das Straßenpflaster wurden Steine aus den Niederlanden importiert. Ich fasse die Mauern an, spüre den Stein und glaube meinem Tastsinn nicht mehr. Traue meinen Augen nicht. Dies verzeihe ich den Japanern nie. In der Nacht sieht die Stadt noch märchenhafter ungeheuerlicher aus. In mir kocht nicht nur die dritte Wut, sondern eine bislang unbekannte Aggression. Jetzt nehme ich den Japanern nichts mehr ab. Sie sind in der Lage, alles zu kopieren. Alles vorzumachen. Für ein Lächeln. Zu spielen. Fassaden zu errichten. Aus echten Amsterdamer Ziegelsteinen. Gebrannt und geölt. Eine kranke Gesellschaft, die so etwas braucht. Und Mangahefte. Und Pachinkopaläste. Eine kranke Gesellschaft. Die sich so etwas leisten will. Huis ten Bosch wurde zu spät fertig. Die Bubble-Zeit bubbelte nicht mehr. Der Größenwahnsinn schoss noch in die Höhe und Breite. 2,6 Milliarden US-$ Investition. Der Immobilienmarkt krachte. Aber das hier existiert weiter. Mit hunderten von Angestellten. Japaner, Schlitzaugen in absonderlichen Uniformen. Verkleidungen. Die kein Wort nicht-Japanisch sprechen. Und immer noch lächeln. Lächeln. Lächeln. Einen Schwall von Freundlichkeit über einen ergießen. Mein Gott, wo bin ich hier. Und Beschallung allüberall. Barockmusik. Haydn. Mozart. Vivaldi. Ich kann es nicht mehr hören. Um acht Uhr abends (ab April um neun) Feuerwerk und Lasershow. Jeden Tag. Das ganze Jahr hindurch. Danach wird uns über Lautsprecher so laut ein schöner Abend „in europäischer Atmosphäre“ gewünscht, dass es bestimmt noch die Menschen in Pusan hören können. Das Echo schallt von den unschuldigen Hügeln ringsumher wider. Ich möchte nur noch weg. Unser Hotel befindet sich knapp außerhalb der Wehrmauern dieser Wunderwelt. Die dritte Art von künstlicher Stadt: Tsukuba – die Wissenschaftsstadt. Yufuin - das Traditionsdorf. Huis den Bosch – das ah und oh für japanische Touristen. Hoch defizitär. Natürlich attraktiv. Teuer. Man bezahlt eine Menge um die „arrival“-Schranke zu durchschreiten. Und kommt nirgends an nach dem „departure“-Tor. Wir aßen im chinesischen Restaurant im zweiten Stock des angeblichen Utrechter Doms. Als Alternative existierten nur ein koreanisches und ein japanisches Restaurant an derselben Stelle. Wir tranken Kaffee an der Ecke zum Domvorplatz (die erste Damentoilette mit Angebot von einzelverpackten Damenbinden, umsonst, neben dem Töpfchen mit Watte zum Abschminken). Auf der Strasse rote, gelbe, grüne und blaue Autos. Wie im ganzen Restland nicht. Und dann das Hotel Nikko – ohne Internetanschluss im Zimmer. Sozialistisch möbliert. Die Schublade des Schreibtischs blieb in meiner Hand hängen. Pappe und Plastik. Gepäckträger in Japan sind immer blutjunge, schmächtige Frauen. Sie rennen einem über den halben Parkplatz entgegen, um den schweren Koffer entgegen zu nehmen. Weigern sich standhaft, ihn auf den Rollen zu ziehen. Mein Gott, wo bin ich bloß hingekommen!




 
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Judith Arlt in Japan. -- Es hat mich in ein Land verschlagen, das sauberer ist als die Schweiz. -- Zu einer Jahreszeit, die ich lieber bei den wildlebenden Kaiserpinguinen auf dem Meereis in der Weddel See verbringen würde. -- Als begleitendes Familienmitglied eines Research Fellows der Japan Society for the Promotion of Science. -- Judith Arlt in Tsukuba Science City, Präfektur Ibaraki.

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