Japan2005
Montag, Januar 31, 2005
  Koraku-En .


Okayama, Matsunoki-Ryokan (=Pinienbaum-Inn), vor dem Frühstück. Auf Tatamis geschlafen. Tief und fest. Unidentifizierbare Träume.
Steigerungen sind immer noch möglich. Gestern Vormittag auf Miyajima, der einst heiligen Insel. Auf der lange Zeit keine normalen Menschen und schon gar nicht Frauen leben durfte. Heute noch immer voll von frei und zutraulich um Futter bettelnden Rehen und Hirschen (mit abgesägten Geweihen), den heiligen Tieren Japans.
Daiganji-Tempel. Die inneren Räume sind normalerweise für Besucher gesperrt. Frau Dr. Funck hatte für ihre Gruppe eine Führung arrangiert und wir durften uns klaglos anschließen. Ein gutgenährter Mönch („Reverent“, für Japaner ist der Unterschied von Mönch zu Priester unverständlich), Familienvater (der Nachwuchs muss gesichert werden, und auch als Mönch muss man das Leben in all seinen Facetten kennen) und Fleischverzehrer (man braucht in so einem Amt Kraft, außerdem darf man die Gaben der Gläubigen nicht verschmähen). Ich schaltete irgendwann meinen verlorenen Kopf ab, da – wie immer bei solchen Gelegenheiten – die Füße eiskalt waren und die Schuhe vor dem Tempel froren. Eine Fassadenwelt wie Huis ten Bosch. Denke ich. Ein verklärter Sonntagmorgen. Entgegen aller Vorhersagen scheint die Sonne. Wir bekommen zum Abschluss Tee, bitteren grünen Tee, mit zwei klebrigen Süßigkeiten, von einer stummen Frau in roten Socken serviert. Seine Großmutter, lachte der Mönch, der in dritter Generation dieses Familienunternehmen betreibt, hätte diesen Raum nicht betreten dürfen. Was keine Diskriminierung der Frauen bedeutete, erklärte er freundlich weiter und seine Worte wurden ohne Stocken ins Englische übersetzt. Damals gab es genug junge Mönche, die den Gästen den Tee servieren konnten. Heute fehlt, wie gesagt, der Nachwuchs. Die jungen Mönche. Bis die Söhne des Reverents erwachsen sind, darf seine Frau auf Knien servieren. Er erlaubt uns auch einen Blick in seinen Steingarten. Den er allmorgendlich vor Sonnenaufgang eine Stunde lang harkt und reinigt. Und der normalerweise den Augen der Fremden verborgen bleibt. Wie alle Geheimnisse. Dieses Tempels. Und seines Herrn. Mein Professor gesteht auf dem Weg zur Fähre, dass diese Besichtigung ihn mehr schockiert habe als Huis ten Bosch. Wir kaufen unterwegs ein buddhistisches Glücksglöcklein. Und einen hölzernen Reislöffel, auf dem der Hausfrieden festgeschrieben ist, den wir am Neujahrstag in Tokyo vergeblich gesucht hatten. Miyajima, die heilige Insel, ist unter anderem der Geburtsort des hölzernen Reislöffels. Ein riesiges Exemplar davon ist in der Haupteinkaufsgasse ausgestellt. Es soll im Guinness Buch der Rekorde untergebracht sein. Ich frage mich, woher die Chinesen ihren Reislöffel (identischer Ausprägung) haben.
Dann: Hiroshima. Wie ein Land seiner Toten gedenkt, sagt mehr über das Land aus als alle hochnotpeinlich sauberen und lichtschrankenempfindlichen Scheißhäuser. Eine so herzlose Angelegenheit wie den Peace Park in Hiroshima habe ich noch nie gesehen. Ein so technokratisches Abrechnen mit einer Menschheitskatastrophe wie im Peace Memorial Museum auch nicht. Dass Schwüre alle paar Jahre erneuert werden, weckt mein tiefes Misstrauen. Der Atombombendom (damals so etwas wie Industrie- und Handelskammer) soll für alle Zeiten erhalten werden und uns erinnern. Wurde 2003 auf einer dritten Metalltafel festgehalten. Wie unser Hausfrieden auf dem Holzreislöffel. Hiroshima. Wenn die Sonne nicht geschienen hätte am 6. August 1945, wenn der Himmel nicht wolkenlos gewesen wäre (der Pilot musste auf Sicht fliegen, wie lächerlich das heute anmutet), hätte die erste Atombombe in der Geschichte der Menschheit zuerst Niigata oder Kokura oder Nagasaki getroffen. Wenn wochenlang Regenwolken über der Insel gehangen hätten, wäre alles anders gekommen.

Nach dem Frühstück, japanisch und reichhaltig: wir packen und stellen das Gepäck am Bahnhof ein. Besichtigen dann den schönsten Garten Japans. Ich muss meinen verloren gegangenen Kopf wieder finden. Vielleicht ist er in einem Schließfach eingeschlossen. Koraku-En – der Garten der späteren Freude. Altjapanische (oder altchinesische?) Maxime des weisen Herrschers: „Trage die Sorgen früher als die Untertanen, erfreue dich später als die Untertanen“.
 
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Judith Arlt in Japan. -- Es hat mich in ein Land verschlagen, das sauberer ist als die Schweiz. -- Zu einer Jahreszeit, die ich lieber bei den wildlebenden Kaiserpinguinen auf dem Meereis in der Weddel See verbringen würde. -- Als begleitendes Familienmitglied eines Research Fellows der Japan Society for the Promotion of Science. -- Judith Arlt in Tsukuba Science City, Präfektur Ibaraki.

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