Japan2005
Freitag, Januar 21, 2005
  Kuckucksrufe .

Toyama. Es schneite die ganze Nacht. Trotzdem sind am Morgen die Straßen der Stadt teerschwarz. Schweres Schneeräumgerät ist weder zu sehen noch zu hören. Die Straßen werden gewärmt und gereinigt vom Wasser aus den unterirdischen Heilquellen. An den Kreuzungen hängen elektronische Anzeigen, von denen wir ablesen können, wie viele Sekunden es dauert, bis die Ampel von Rot auf Grün wechselt. Für uns Fußgänger (nicht nur hier, sondern im ganzen Land) ertönt dazu Vogelgezwitscher. Je nach Himmelsrichtung. Als Erkennungszeichen für die Blinden. Amseln. Drosseln. Fink und Star. Wir wohnen im Eckzimmer im 13. Stock des Hotels Ana an der Otomachi-Allee. Sie kreuzt unter uns die Burgstraße. Wir schliefen ein mit dem Kuckucksruf und wachten mit ihm wieder auf. Und er begleitet mich den ganzen Tag.

Irritationen. Das Essen wird immer besser und exklusiver. In Niigata glaubten wir uns mit Tsuji-san bereits im kulinarischen Himmel. Assen an normalen Tischen Sashimi, Noppe Stew (Taro, eine Art Kartoffel, Lotuswurzeln, Bambusschösslinge, Ginkonüsse und Lachs in Soyasauce), Nanban Shrimps (süsse Shrimps), Koshihikari-Reis und tranken verschiedene Sakesorten aus Eschigo-Reis, u.a. Acht-Berge-Sake. Mittlerweile kann ich mir die Namen der Speisen nicht mehr merken. Weil der Service immer erniedrigender wird. 18 erlesene Delikatessen von einer Frau auf Knien gereicht zu bekommen, fördert weder meine Verdauung noch die Laune. Anders bei den Männern, die sich mit geröteten Köpfen immer lauter unterhalten. Ich könnte genausogut nicht anwesend sein. Höhepunkt des gestrigen Abends: die Chefin des Etablissements, die kam, sich verbeugte und auf den Knien Bier einschenkte. Mit einem eingefrorenen Lächeln auf den eingespielten Lippen. Auf den Knien wegrutschte. Auf den Knien sich verbeugte. Nochmals. Zum Abschied. Und auf den Knien verschwand. Im teuren Kimono. Aus raschelnder Seide. Der Professor war begeistert. Allein dafür müsste man bestimmt zehntausend Yen hinblättern. Im Restaurant der fünfzigtausend Steine. Wobei Steine in diesem Fall eine Reismaßeinheit bedeuteten. Erklärte der gelehrte Sinologe und mich packte die zweite Wut. Ich bin verstimmt bis weit in den heutigen Tag hinein. Schicke die Putzfrauen dreimal weg.

Der Besuch im Suiboko-Museum ändert nichts. Auch nicht die Geschenke des Direktors an meinen Mann (Kataloge, Postkarten). Und erst recht nicht der erste richtig giftiggrüne, bittere, schaumige Tee im kalten Teehaus. Es schneit unverrichteter Dinge weiter.

Ich bin vollkommen überflüssig in diesem Land der Kuckucksrufe. In einem Land, in dem Uriniergeräusche von Frauen nicht gehört werden dürfen, weshalb die Toilette in unserem privaten Hotelzimmer automatisch das Spülen einleitet, wenn mein Hintern die angewärmte Klobrille berührt, nicht aber wenn der Tourismusexperte im Stehen pinkelt. In einem Land, in dem die Mädchen im tiefsten Winter mit Miniröcken und Knöchelsöckchen zur Schule gehen müssen. In einem Land, in dem verheiratete Frauen nicht arbeiten sollen, und wenn sie es doch tun, keine Visitenkarten besitzen, sprich keine Stellung einnehmen. In einem Land, in dem es keine gummierten Briefumschläge gibt, geschweige denn selbstklebende. In einem Land, in dem Frauen blutleer menstruieren, denn ich habe noch auf keiner öffentlichen Damentoilette andersartige Spuren vorgefunden. In einem Land, in dem die Alpen am Meer liegen und Frauen individualistisch ausgeprägte Vorlieben haben. Erwiesermaßen anders als die Männer in Schlips und Turnschuhen. In Tokyo gibt es Freudenhäuser, in denen Männer arbeiten und Frauen bezahlen. Fotos von den begehrtesten männlichen Prostituierten prangen überdimensioniert an der Fassade und werden, je nach Geschäftsgang, tagesaktuell ausgewechselt. Im Vergleich dazu fallen die Schulmädchengesichter auf der anderen Seite der Straße blass und farblos aus. Kucku. Kucku. Kuckucksrufe.

 
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Judith Arlt in Japan. -- Es hat mich in ein Land verschlagen, das sauberer ist als die Schweiz. -- Zu einer Jahreszeit, die ich lieber bei den wildlebenden Kaiserpinguinen auf dem Meereis in der Weddel See verbringen würde. -- Als begleitendes Familienmitglied eines Research Fellows der Japan Society for the Promotion of Science. -- Judith Arlt in Tsukuba Science City, Präfektur Ibaraki.

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