Japan2005
Sonntag, Januar 16, 2005
  Lebarten .

Nichiyobi – Tag der Sonne. Es regnet und regnet und regnet und hört nicht mehr auf. Wir schliefen fast bis zum Mittag. Erschöpft von einer zweitägigen Reise durch ein Land, in dem wir fast nichts lesen, kaum etwas hören und gar nichts verstehen können. Wir waren immer auf der Hut. Im Schneetreiben in Nikko. Im Garten Shoyoen. Tausende von Stufen hoch zum Grab Tokugawas. Auf Strümpfen in den Tempeln, im Schatzhaus, in den Schreinen. Die wir fast allein betreten durften. In der Halle des Drachengebrülls. Wo ein Mönch mit einer Holzklappe für eine Handvoll Japaner Resonanzkatastrophen erzeugte. Nikko heißt Sonnenglanz. Wir waren fast ganz allein. Und doch immer auf der Hut. Unter dem frisch gefallenen Schnee lag das Eis der letzten Nächte. Den riesigen Schuhregalen nach zu urteilen, unterteilt in Abteilungen „für Gruppenmenschen“ und für „Einzelmenschen“, müssen sich an normalen Tagen Heerscharen von Besuchern tummeln, drängeln, anstellen. In Einbahnstrassen bewegen. Wir waren allein mit den Mönchen, die des Schnees Herr zu werden versuchten. Vergeblich. Eine Fotografin hatte unter einem Vordach ihre Kamera installiert. Der Schnee verschluckte alle Geräusche. Es war still wie in einem Grab. Aber hell und bunt. Leuchtendes Rot. Leuchtendes Grün. Leuchtendes Gold. Von allen Toren verfolgten uns Torhüterfratzen mit Windsäcken oder Donnerkeilen. Sie und das sie umgebende Rotgold werden Tag und Nacht von weichen Lappen in Frauenhänden umschmeichelt. Tokugawas Urnengrab, auf dem höchsten Punkt der ganzen Tempelanlage gelegen, ist eine wohltuend schlichte und runde Bronzeangelegenheit. Nur die Zedern wachsen höher in den Himmel. Wie werden in diesem Land die Kaiser begraben? Frage ich und keiner antwortet. Wir sind auf der Hut. In den Bussen. In den Zügen. Auf den Bahnhöfen. Unsere Wintermäntel sind heute noch nass. Auf der Strasse. Im Eismatsch. Im Nachtregen. Die Spannung ließ erst nach, als wir im doppelstöckigen Bus nach Tsukuba saßen.

Tag der Sonne – nichiyobi. Die Woche beginnt oder endet mit dem Tag der Sonne. Je nach Lebart. Aber auf die Sonne, auf den Sonntag, den Tag der Sonne folgt immer, im Japanischen, im Deutschen und in fast allen lateinischen Sprachen der Welt, der Mond, der Montag, der Tag des Mondes. Getsuyobi. Sonne – Mond. Nichi – getsu. Danach treten in der Japanischen Zeitvorstellung die Elemente auf: Feuer, Wasser, Holz, Metall, Erde. Dienstag, Mittwoch, Donnerstag, Freitag, Samstag. Die Kanji-Zeichen hat mir der Professor noch gestern Nacht vorgemalt. Und ich ihm die Laute vorgesprochen. Das Feuerzeichen besteht aus einem langen Strich und drei kurzen. Eine prasselnde Feuerstelle. Wasser ist ein Wasserrad. Holz ein Baum. Metall etwas für mich Kompliziertes mit einem Dach darüber. Erde wie Erde: ein breiter waagrechter Strich unten, in der Mitte im rechten Winkel ein Strich nach oben, in dessen Mitte ein zweiter, kürzerer waagrechter Strich. Wir mussten die Unruhe der Reise irgendwie ausbügeln. Ausmalen. Den Schnee aus den Handschuhen schütteln. Nasse Schals und Mützen aufhängen. Den Regenschirm über die Badewanne spannen. Mit Whisky und Kanji und japanischer Lesart: ka-yobi, sui-yobi, moku-yobi, kin-yobi, do-yobi. Einschließlich Sonntag und Montag: nichi-yobi, getsu-yobi.

Yobi für den Tag der Woche besteht aus zwei Kanji-Zeichen. Das –bi sieht aus wie die Sonne, bzw. der Sonntag, ein hochstehendes Rechteck mit einem Querstrich. Das yo- ist in seiner Unergründlichkeit unverwechselbar. Warum aber das Element Luft in der japanischen Woche fehlt, bleibt auch heute früh ein Rätsel. Und warum Holz (oder Baum) vielleicht als Grundelement gegen Luft eingetauscht wurde, kann im Regen auch nicht geklärt werden. Die Systematik einer gar nicht so fremden Zeit- und Weltvorstellung. Mond, Feuer, Wasser, Holz, Metall, Erde. Und die Sonne steht zwischen Erde und Mond. Wie am Himmel. Aoki-san arbeitet auch sonntags. Er schickte heute früh, wahrscheinlich erleichtert darüber, dass wir ohne gebrochene Rippen aus dem verschneiten Nikko zurückgekommen sind (was wir ihm wie gehorsame Schüler gleich nach der Rückkehr übermittelten), eine email, der Professor möge sich bis Ende des Monats für ein zweites Stipendium bewerben. Der Schock sitzt tief. In unseren kaum zur Ruhe gekommenen Seelen.


 
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Judith Arlt in Japan. -- Es hat mich in ein Land verschlagen, das sauberer ist als die Schweiz. -- Zu einer Jahreszeit, die ich lieber bei den wildlebenden Kaiserpinguinen auf dem Meereis in der Weddel See verbringen würde. -- Als begleitendes Familienmitglied eines Research Fellows der Japan Society for the Promotion of Science. -- Judith Arlt in Tsukuba Science City, Präfektur Ibaraki.

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