Neujahr in Tsukuba Science City
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Einiges ist gewöhnungsbedürftig in Japan.
Zum Beispiel der Linksverkehr.
Wir sind wohlauf und bei schönstem Sonnenschein am Mittag zwei Stunden mit den Fahrrädern durch die Stadt geradelt. Ohne weitere Zwischenfälle, außer dass wir den auf dem Stadtplan in der Nähe unseres Hauses eingezeichneten buddhistischen Tempel nicht fanden. Wir fuhren weiter und brachten unser bescheidenes Neujahrsopfer vor einem zufällig an einer Straßenecke entdeckten Shinto-Schrein dar.
Oder die stille Silvesternacht.
Wir saßen zufrieden und satt (mein unerschrockener Wolfgang lässt sich selbst von widrigen Umständen wie einem lauten japanischen Supermarkt, Schneetreiben oder einer kochlöffellosen Küche nicht davon abbringen, Essen selbst zuzubereiten) in unserem makellos weißen Appartement im Ninomiya-House. Von Zeit zu Zeit schalteten wir den Fernseher ein, nicht um Farbe in unser Zimmer hineinzuholen, sondern um ihn gleich wieder auszuschalten. Das Abendprogramm auf allen Kanälen war unverständlich, schrill oder rührselig. Irgendwo spielte die unverwüstliche Neunte von B., in aseptischer Ausführung eines japanischen Orchesters, schwarzweißen Chors (Bass und Tenor schwarzer Anzug, Alt und Sopran weiße Bluse) und Solisten. Dirigiert von einem Europäer. Vielleicht Kurt Masur. Der lange Flug über Sibirien hatte alle überflüssigen Bilder und Namen aus unseren Köpfen weggeputzt. Die Nachbarn im Ninomiya-House schliefen. Oder waren verreist. Oder verhielten sich aus anderen Gründen lautlos. Auch das weite Feld vor unserem Fenster lag ruhig in der Dunkelheit. Und die Nacht blieb unberührt. Um 23.45 Uhr – wir schalteten wieder ein, um den Freixenet-Korken pünktlich knallen zu lassen – brach das Schreien und Stampfen und Verbeugen im TV abrupt ab. Die Kamera schwenkte durch das ganze Land, von der Atombombenkuppel in Hiroshima zur Gedenktafel für die Erdbebenopfer in Kobe zu schweigenden Menschenansammlungen vor Tempeln an für mich unentzifferbaren Orten. Japan versank in dieser Nacht im Schnee. Vermummte Menschen warteten klaglos, bis sie an der Reihe waren und die Glocke im Tempel anschlagen konnten. Dazwischen ein europäisches Männergesicht. Darauf Langeweile. Die Kamera hielt inne. Mehr passierte nicht. Kurz nach Mitternacht klingelte unser Telefon. Der erste Neujahrsgruß kam aus Allschwil. Dort war es nachmittags um vier, und mein Schwager fing gerade an, das Gemüse zu putzen.
Oder die Träume. Nach drei Tagen hören wir endlich auf, unsere Gedanken zu sammeln. Und kommen an. Etappenweise. Ich musste mein letztes Zeitloch gestern am frühen Abend auf dem Sofa wegschlafen. Wolfgang heute früh im Bett. Gegen zehn Uhr wachte er endlich auf und erzählte, ich hätte eben in seinem Traum gesagt, ich könnte einer Wiese anhören, ob sie einsam sei oder nicht. Ob viele Menschen über sie spazierten oder wenige. Oder gar keine.
P.S. Tsukuba liegt ca. 100 Kilometer nordöstlich von Tokio in der Provinz Ibaraki. Auf dem einzigen ausgedehnten grünen Fleck auf der Landkarte von Japan, der Kanto-Ebene. Durch die der größte Fluss des Landes, der Tone-gawa fließt. Wir überquerten ihn, als wir vom Flughafen nach Hause fuhren. Hier wird der meiste Reis Japans angebaut, der berühmteste Sake, Gekkeikan gebrannt, sowie die beste Shoyu (Soja-Sauce) und Miso (Soja-Saucenpaste) produziert. Mein angeheirateter Koch war bei seiner ersten Einkaufstour entsetzt, dass der japanische Reis (anderen gibt es hier nicht zu kaufen), der vor unserer Nase sprießt, mehr kostet als thailändischer Duftreis im chinesischen Supermarkt am Alexanderplatz in Berlin. Er verzichtete kurzentschlossen darauf, einen Reiskocher anzuschaffen und strich homecooked Reis vom Speiseplan für die nächsten zwei Monate. Zum Frühstück essen wir Sushi, sauer eingelegte Gurken und trinken Miso-Suppe. Mittags mal dies, mal das. Abends gibt es Nudeln jeglicher Art sowie ein Gläschen in der Mikrowelle erwärmten Gekkeikan.