Japan2005
Sonntag, Januar 09, 2005
  SEIJIN NO HI .

Wir waren am Mittag in der CapiO Hall und betrachteten ungefähr 800 junge Menschen, die heute in einer offiziellen Zeremonie der Stadt ihr „Erwachsengewordensein“ feierten. Der männliche Teil vorwiegend in schwarzen Anzügen, mit gelockerter Krawatte oder fest um den Hals gebundener. Nur sehr wenige trugen traditionelle japanische Männerkleidung. Der weibliche Teil geschlossen in wunderschönen bunten Kimonos. Mit schneeweißen Pelzstolas. Das hennagefärbte oder naturschwarze Haar hochgesteckt mit Blumen oder Plastikteilchen. Das passende Täschchen am Arm. Das Handy. Die Minidigitalkamera. In weißen Söckchen und traditionellen japanischen Trippelschühchen.
Die Mädchen wirkten erwachsener als die Jungs. Die jungen Männer guckten linkisch, scheu oder frech in die Welt. Weniger konform. Weniger uniformiert. Trotz des fast einheitlich feierlichen Schwarz. Manche hatten eine Sonnenbrille auf (was den Mädchen im Kimono ganz versagt blieb), andere schreckten mit gegelter Igelfrisur. Sie schlenkerten lässig zu lang geratene Arme. Taten cool und individuell. Während die Mädchen angezogen, frisiert, dezent geschminkt und parfümiert waren. Kaum Bewegungsfreiheit hatten, dafür aber lackierte Fingernägel. Lauter Prinzessinnen auf der Erbse. Sie stießen immer wieder weiblich schrille Schreie aus. Und erfüllten damit den Raum sowie ihre repräsentative Rolle in der Gesellschaft. Morgen, am eigentlichen „Coming-of-Age-Day“, werden sie in ihren farbigen Kimonos zu den Tempeln und Schreinen der Stadt trippeln, beten, knipsen und kichern. Übermorgen gehen sie weiter in der dunkelblauen Uniform, mit Kniestrümpfen und weißer Bluse, zur Schule, bzw. bereiten sich auf die Aufnahmeprüfungen an die Uni vor. Denn, so weit ich weiß, ist das Schuljahr noch lange nicht zu Ende.
Wir waren ungehindert in die CapiO Hall hineingekommen, obwohl wir in diesem Haufen verkleideter Jungerwachsener mit unseren Fahrradjacken auffallen mussten und keine Eltern anwesend waren. Von der leeren Zuschauertribüne aus betrachteten wir ungestört das laute Geschehen. Es geschah nichts. Vorne, am Rednerpult las ein Mann Namen (?) von Honoratioren (?) herunter. Daneben stand eine Hände- und Fingerverwerfende Lehrerin in engem Kostüm und übersetzte für die Taubstummen. Niemand hörte zu. Niemand schaute zu. Nur wir zwei Verlorenen Seelen. Ab und zu erhob sich ein winziges Persönchen in der ersten Sitzreihe und verbeugte sich. Das fröhliche Geschnatter der Volljährigen übertönte jeden höflichen Applaus. Nach einer kurzen Weile traten strammen Schrittes Kellner auf, wie die Soldaten zur Wachablösung am Grab des Unbekannten Soldaten. Zwei Kimonos und drei schwarze Anzüge und eine japanische Fahne pflanzten sich mitten auf der Bühne um ein Mikrophon auf. Nach längerem Verhandeln und Verbeugen rief der gelbe Kimono lachend etwas ins Mikrophon. Mein Sinologe meinte das Wort „kanpei“ (für „Prost“ bzw. „leeres Glas“, d.h. in einem Zug austrinken), gehört zu haben. Das kalte Büffet war eröffnet und der Sturm begann.
Wir schauten zu, wie sich die großgewordenen Kinder Cola und Grüntee aus 2-Liter-PET-Flaschen in geschliffene Gläser einschenkten. Mit Stäbchen gekonnt hantierten. Gestern beim Mittagessen im Wald hatte sich Aoki-san sehr gewundert, dass in Deutschland die Kirche die Kinder bereits mit 13 oder 14 Jahren für mündig erklärt, und der Staat mit 18. Und wir fragten uns heute im obersten Rang der leeren Zuschauerbühne, warum man hier kollektiv volljährig wird und keinen eigenen Geburtstag hat. Warum das bürokratische Jahr (vom 1.4. bis zum 31.3.) auch für das Erwachsenwerden gilt. Warum das Jahr des Hahns bereits am 1. Januar angefangen hat. Und wann eigentlich das Jahr des Kaisers (z. Zt. befinden wir uns im 17. Heisei-Jahr) beginnt.
Zu Hause zurück, pflegt der Professor seine Verzweiflung vor dem Fernseher und schaut dem ersten Sumoturnier des neuen Jahres zu. Es ist Sonntag. Auch in Japan der Tag der Sonne – nichiyobi. In der kalten Bibliothek finde ich eine email von Mario. Er teilt mir mit, als ob er geahnt hätte, wo wir waren, wie der Volljährigkeitstag heißt: Seijin (Erwachsen) no (Genitivpartikel) hi (Tag). –yobi heißt auch Tag. Aber ich nehme an, in Kombination mit den Elementen nur als Wochentag. Das Wundern hört nicht auf.

 
Comments:
Da muss ich doch gleich einen Kommentar abgeben zum Volljaehrigkeitstag:
Vielleicht erinnert ihr euch, dass ich von 1975-78 (ja, ja, lange her, ich weiss - no comments please!) in der Einwohnergemeindeverwaltung Bolligen (damals Verw. von drei Vororten von Bern) meine Verw.lehre gemacht habe und der Einwohnergemeindepraesident jedes Jahr im November alle Buerger und Buergerinnen dieser 3 Gemeinden, die in diesem Jahr 20. geworden sind/noch werden im Nov./Dez., zur "Jungbuergerfeier" eingeladen hat. Und das ist nichts anderes als "Volljaehrigkeitstag". Die Jungen und Maedchen kamen (well, vielleicht 20% von allen Eingeladenen, weil es in den 70er Jahren ja nicht cool (dieses Wort war zwar noch nicht im Sprachgebrauch) war, offizielle Dinge zu tun und angepasst zu sein.
Anyway, am 21. November 1975 hat eine Erstlehrjahrslehrtochter der Einwohnergemeindeverwalung Bolligen ihren (sorry, einen ihrer) zukuenftigen langjaehrigen Freund kennengelernt: Peter Buehlmann! Er wurde erst am 9. Dezember 20 jaehrig.
Das genuegt fuer heute.
Jeannette
 
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Judith Arlt in Japan. -- Es hat mich in ein Land verschlagen, das sauberer ist als die Schweiz. -- Zu einer Jahreszeit, die ich lieber bei den wildlebenden Kaiserpinguinen auf dem Meereis in der Weddel See verbringen würde. -- Als begleitendes Familienmitglied eines Research Fellows der Japan Society for the Promotion of Science. -- Judith Arlt in Tsukuba Science City, Präfektur Ibaraki.

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