Japan2005
Mittwoch, Januar 12, 2005
  Teflonpfanne und Strommasten .

Tokyo II: Wir fahren diesmal mit dem Stadtbus bis zur nächsten, südlich von Tsukuba gelegenen Bahnstation Hitachino-Ushiki. Nehmen dort einen Vorortzug bis zur Ueno-Station in Tokyo. Alles, was wir hier zum ersten Mal machen, erweist sich als mittleres Abenteuer. Wie fährt man Bus in Tsukuba? Bisher sind wir durch unsere Wissenschaftsstadt ohne Bahnanschluss entweder marschiert oder geradelt. Die nächstgelegene Haltestelle hat mein wendiger Reiseleiter schon gestern Abend ausfindig gemacht. Ich gestehe: ich hätte sie nie gefunden! Gut versteckt am Straßenrand hinter einer, vom Trottoir aus gesehen, auf dem sich die Fußgänger bewegen, hohen, dichten immergrünen Pflanzenrankenwand. Der Durchgang von Gehweg zur Bushaltestelle wurde, bestimmt gegen den Willen der Stadtgärtner, vom Fußvolk in den letzten zwanzig Jahren freigetrampelt. In den Bus steigen wir wie die Japaner gehorsam in der Mitte ein. Nehmen uns ein Ticket, das uns ein klingelnder Automat entgegenstreckt. Darauf sind die Nummer der Haltestelle (in unserem Fall die 7), das Datum (17.1.12 = 12. Januar des 17. Jahres der Heisei-Ära von Tenno Akihito) sowie ein paar unverständliche Kanji-Zeichen aufgedruckt. Bezahlen und Aussteigen werden wir vorne. Beim Fahrer. Wir sind angehalten, den Fahrpreis selbst von einer Tabelle über seinem Kopf abzulesen. Indem wir die 7 suchen und die rotleuchtende Zahl darunter erkennen. Dann werfen wir den entsprechenden Betrag mitsamt den Tickets in eine dafür vorgesehene Plastikbox zu Linken des Fahrers, die aussieht wie die Münzsammelstationen an allen Flughäfen der Welt von Ärzte ohne Grenzen. Wer nicht genug Kleingeld hat, kann sich von der seltsamen Maschine größere Münzen oder Geldscheine wechseln lassen. Also füttern wir zuerst einen Schlitz mit dem 1000-Yen -Schein, klauben dann einen Haufen Münzen aus der Schale heraus und werfen genau abgezählte 880 Yen in die Plastikbox. So etwas muss einer erst mal verstehen, der kein Japanisch versteht. Und der bei den anderen Fahrgästen nichts abgucken kann, weil die bereits verschwunden sind. Die warfen eine Handvoll Irgendwas Irgendwohin. Der Fahrer kann und soll nicht nachzählen, denn das würde seine Passagiere beleidigen. Nur bei uns Verständnislosen dauerte das Aussteigen und Bezahlen eine Ewigkeit, fast hätten wir den Zug nach Tokyo verpasst. Der Fahrer weigerte sich standhaft, unsere Münzen oder unseren Geldschein anzufassen und selbst Hand anzulegen. Anderer Leute Geld ist schmutzig. Wenn das die Schweizer wüssten! Die Zugfahrt ist lang und langweilig. Der Zug voll schlafender Japaner. Wir ergattern zwei freie Sitzplätze, neben einer dicken Japanerin und einem emsig auf die Tastatur seines auf den Knien ruhenden Laptops einhämmernden Japaners, an dessen rechter Hand der Zeigefinger fehlte. Der Professor versinkt in Frommer’s Japanreiseführer. Er muss unseren heutigen Tokyorundgang planen. Ich starre aus dem Fenster und auf die Reisenden. Wundere mich über die Menschen im Winter. Über das unfeine Benehmen der Ehemänner, die sich auf jeden frei gewordenen Platz drängen und vor den Augen ihrer Ehefrauen in Sommerschuhen den Kopf auf die Brust sinken lassen und augenblicklich einschlafen. Irgendwo fährt ein gelbes Haus an uns vorbei, beziehungsweise wir an ihm. Ich freue mich, dass hier doch jemand auffallen will in dem ungebändigten Weiß, Grau, Dunkelweiß und Hellgrau, vermischt mit einem Tupfer Braun und dem daraus entstehenden berühmten japanisch dezenten Hellbeige. Die Welt ist außen wie innen farblos. Wir essen weißen Reis mit weißem Fisch. Die meisten Autos auf den Strassen sind weiß, gefolgt von wenigen schwarzen oder dunkelblauen. Die Farben rot, grün, gelb gehören den Ampeln auf den Kreuzungen.

Wir kommen mit Verspätung in Ueno an und verbeugen uns, nachdem wir unsere Fahrkarten für Freitag gekauft haben, als erstes im Ueno-Park vor dem Toshogu Schrein. Hier wird seit 1651 Tokugawa gedacht, dem Begründer von Edo (heute Tokyo), der dieses unbedeutende Dorf zur wichtigsten Stadt des Landes erhob. Riesige Stein- und Kupferlaternen säumen mit verknospten Kirschbäumen die Eingangsallee. Dem Professor lag viel daran, so hat er sich das im Bummelzug mit pädagogischem Hintersinn ausgedacht, dass ich den Toshogu Schrein in Tokyo sehe, bevor wir am Freitag nach Nikko fahren, wo sich das Mausoleum von Tokugawa Ieyasu befindet, sowie der eigentliche und viel prachtvollere Togoshu Schrein. Errichtet von Tokugawas Enkel, der angeblich keine Ausgaben scheute, um seinen großen Vorfahren zu verherrlichen. Wir machen noch einen kurzen Schlenker um den Kaneiji-Tempel, den Familientempel der Tokugawas. Dann verlassen wir bei scharfem Wind den Ueno-Park in Richtung Nationalmuseum, Kunsthochschule, Musikakademie. Steigen den Ueno-Hügel hinab in die „Tal-Mitte“ – Ya-naka. Befinden uns plötzlich im einzigen Stadtteil Tokyos, der weder von Erdbeben, noch von Weltkriegsbomben, noch von bauwütigen Architekten je zerstört wurde. Tempel an Tempel. Friedhof an Friedhof. Sauber geputzte Marmorgrabmäler. In die Höhe errichtet. Holzwassereimer – für jedes Familiengrab einer – sind ordentlich an einer Seitenwand aufgehängt. Dutzende, Hunderte. Mit Holzwasserschöpflöffel und Putzlappen. Ordentlich hinterlegt. Die Eimer sehen aus wie unsere Saunaaufgusseimer. Die Holzlöffel ähneln den Aufgussschöpfkellen, sind etwas kleiner und ordentlicher rund. Wenn die Schweizer das wüssten. Wie ein Friedhof sauber gehalten werden kann! Beim Mittagessen, Curryreis in einem kleinen Restaurant, erzählt mir der Touristikprofessor, der mich mit seinem Dienstkram Tag und Nacht beschwatzt, dass man in Japan, um mehr ausländische Touristen ins Land zu locken, nun in allen Städten die Stromleitungen unter die Erde verlegen will. Ich staune über solchen Unsinn. Mich stören die tatsächlich ungewöhnlich wirr und unordentlich in der Luft hängenden Stromkabel nicht. Auch nicht die Strommasten aus Holz. Ich sehe sie nicht. Jedenfalls nicht von der Straße aus. Erst jetzt, als ich den Kopf von meinem scharfen Curry hebe, am Tisch in der Ecke vor dem Fenster der Kneipe. Mich stört mehr, brumme ich schmatzend, dass kaum ein Straßenname zu entziffern ist. Kaum eine U-Bahnstation. Dass in keinem Reiseführer erklärt wird, dass Geld von Touristen anzufassen ekelhaft ist. Fast so schlimm, wie mit Schuhen ein Haus zu betreten. Gegenüber wird gerade ein Sarg in eine schwarze Limousine verladen. Ich verstumme und staune über die Logistik: das ganze Fahrgestell, auf dem die unscheinbare und dezent hellbeige Kiste um die Ecke biegt, findet, schwups, Platz im Innern des Leichenautos. Die Hinterbliebenen (ich nehme an, es sind sie) verbeugen mehrmals, bevor das Auto sich in den stockenden Linksverkehr einreiht. Ich weiß nicht, ob sie sich vor der Verstorbenen (ich nehme an, es war die Frau des älteren Mannes, die Mutter der jüngeren Frau, die Schwiegermutter des jüngeren Mannes) verbeugen oder vor den beiden Leichenbegleitern in weißen Handschuhen, oder vor dem Bestattungsunternehmer. Vielleicht vor allen zusammen. Vor einem nach der anderen. Der Reihe nach. Wir steigen bei Sendagi in den Untergrund, fahren mit der grünen Chyoda-Linie bis Omotesando. Die Japaner halten ihren Mittagsschlaf in der U-Bahn ab. Wir steigen um, verlieren uns nicht, fahren mit der goldenen Ginza-Linie zwei Stationen nach Westen und kommen an der Aoyama-Itchome wieder an die Oberfläche der Welt. Nun habe ich plötzlich das untrügliche Gefühl, in Tokyo zu sein. Stein auf Stein. Stil auf Stil. Von Weiß über Grau bis zu Hellbeige. Der Professor ist mit Herrn B. verabredet, ich setze mich ins Kaffee des Goethe-Instituts und trinke „Kräutertee“. Bis Hiroko und Mario kommen und begeistert von Nara erzählen. Bis der Professor vom vierten Stockwerk wieder herabsteigt. Und mir den Satz des Tages bringt. Nach Ansicht von Herrn B. (Name und Anschrift der Redaktion bekannt) verhält sich die Japanische Gesellschaft ausländischen Touristen sowie ausländischen Einflüssen jeglicher Art gegenüber wie eine Teflonpfanne. Nichts brennt an, nichts bleibt haften. Ob fünf Millionen jährlich kommen oder zehn. Man wird sie nicht freundlicher behandeln. Wir gehen indonesisch essen. Auch Trinkgeld ist nicht erwünscht. Im Land der sauberen, aber kalten Füße. Natürlich verändert der Tourismus die Welt. Braust der Professor unvermittelt auf. Flöhen nicht so viele europäische Touristen im Winter zu den freundlichen Thailändern (wir selbst, in Klammern sei’s gestanden, verbrachten unsere Hochzeitsreise auf Krabi, genau zu dieser hochheiligen Weihnachtszeit), würde sich kein Mensch um die vom Tsunami in den Ozean gerissenen Fischerhütten, Fischerkutter, Fischerskinder, Fischersfrauen, Fischersfischer von Sumatra bis Indien kümmern. Dann will er statt Nachtisch eine Digitalkamera kaufen. Mario – der Fotograf! – unterstützt ihn dabei. Erzählt, dass in Nikko bereits alle Stromkabel unter der Erde seien. Dass aber an solchen Orten trotzdem Horden von Schulkindern, Schuluniformen, Schuluniformmützen in seinen Bildern stünden. Jetzt verstehe ich endlich: die Stromkabel in der Luft stören nicht die Touristen, sondern die Fotos der Touristen. Die Amateurfilme. Die Aufnahmen für die Daheimgebliebenen. Wir stolpern durch Shibuya. Nachts ist Tokyo schöner und lebendiger als am Tag. Meist auch wärmer. Hier wuseln all die herum, die tagsüber in den unter und über der Erde ratternden Zügen schlafen. Hier hocken sie in den Pachinko-Palästen. Ich traue meinen Augen nicht und erst recht nicht den Ohren, als Mario die Glastüren aufstößt. Betäubender Lärm. Verqualmte Luft. Unermüdlich hocken sie auf Stühlchen, vor Automaten und „entspannen“ sich. Wir Westler entspannen uns beim Kochen (der Professor) oder beim Bügeln (ich) oder im Waschsalon "vor dem Wäschetrockner, in dessen großem Fenster ich die Wäsche herumschaukeln sehe ..."(der Fotograf wörtlich). Die Japaner fixieren mit schmalen Augen glitzernde Kinderglückskügelchen. Manche haben ganze pinkfarbene Plastikwaschkörbe voll des Glanzes hinter sich stehen. Es ist die innere Unruhe, die diesen Glanz in braucht. Flüstert mir Tanizaki Jun’ichiro ins Ohr.

Wie angenehm ist es, in der Nacht mit dem Bus von Tokyo-Station bis Tsukuba-Center zu fahren. Die Japaner schnarchen. Wir haben die letzten beiden freien Plätze erwischt. Und uns zwischen die schlafenden Anzüge gezwängt. Dann laufen wir unter Sternen nach Hause. Mein Koch und Reiseleiter ist auch Sterngucker. Jeden Abend zeigt er in den Himmel und sagt: „Da ist der Orion“.

 
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Judith Arlt in Japan. -- Es hat mich in ein Land verschlagen, das sauberer ist als die Schweiz. -- Zu einer Jahreszeit, die ich lieber bei den wildlebenden Kaiserpinguinen auf dem Meereis in der Weddel See verbringen würde. -- Als begleitendes Familienmitglied eines Research Fellows der Japan Society for the Promotion of Science. -- Judith Arlt in Tsukuba Science City, Präfektur Ibaraki.

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