Tokyo und Mario
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Gestern trafen wir in Tokyo unseren Freund Mario.
Tokyo und Mario.
Wir hatten uns tags zuvor telefonisch dort verabredet, wo der Bus aus Tsukuba uns in die Metropole ausspucken würde. Wolfgang, der Berliner Sinologe, der kein Japanisch kann, entzifferte die Kanji-Zeichen der Endstation als „Japan-Brücke“. Mario, der deutsche Fotograf, der seit über zwanzig Jahren in Tokyo lebt, konnte sich darunter nichts vorstellen. Trotzdem umarmten wir uns am Nordende der „Tokyo Station“, am Busbahnhof „Nihonbashi“ pünktlich um 12.30 Uhr.
Mario in Tokyo.
Ist nicht anders, als Mario in Berlin. Ab und zu. Alle paar Jahre. Auf einen Moment. Einen Abend. Einen Spaziergang. Der Luft war klar. Der Himmel blau. Die Sonne winterhart. Während der ganzen Fahrt im Bus von Norden in die Stadt hinein stand der schneebedeckte Kegel des Fuji majestätisch vor uns. Über mehrstöckigen Autobahnen. Über blassen Hochhäusern. Über unserem Staunen. Kein Smog, meinte Mario, das ist selten. Trotz Stau auf den Strassen. Trotz Jahreswechsel. Trotz öffentlichen Auftretens des Kaisers und seiner Familie. Winkend hinter Glas auf dem Balkon des Palastes. Es sind viele Fremde in der Stadt, sagte Mario, das sieht man an den Kleidern. Die sind wärmer angezogen als die Tokyoter. Wie wir, denke ich beschämt. Bereits in Tsukuba fallen wir auf mit unseren Wintermänteln, Mützen, Schals, Handschuhen und den lammfellgefütterten Winterschuhen (weiteres dazu "Winter in Japan" – folgt in Kürze). Mario und ich haben uns vielleicht drei, höchstens vier mal im Leben gesehen. Wolfgang war in einer früheren Karriere mit einer früheren Lebenspartnerin zusammen einmal Marios Verleger. Ich kenne nur den Fotoband „Berlin – Ein Wintermärchen ohne Mauer“ (darin: ein Foto vom Michelkirchplatz kurz nach der Maueröffnung, der Engel auf dem Glockenturm der Ruine der Michaelkirche fehlt darauf (er badete gerade in einer Reinigungslösung eines ostberliner Restaurators), der Plattenbau, in den wir zehn Jahre später einzogen, zeigt sich hingegen in seiner ganzen sozialistischen Schönheit, auch der grobschlächtige Wachturm und das kriegsschuttgefüllte Engelbecken). Sowie die Fotos von japanischen Schreibenden. An ihren Schreibtischen. Yoko Tawada und andere, deren Namen ich vergessen habe, nicht aber ihre Gesichter und Hände, nicht die Bücherwände im Hintergrund, nicht die Manuskriptstapel, nicht die Schreibutensilien. Das war sozusagen unsere unbefleckte Empfängnis. Zu Marios heutigen Arbeiten siehe
http://www.marioa.com/
Dennoch, erklärte Mario seiner Freundin Hiroko gestern, „I feel closer to her“. Nicht weil wir, Mario und ich, etwa seelenverwandt wären. Sondern weil wir eher so etwas wie heimatverwandt sind. Besser gesagt, heimatverloren. Heimatverlorenverwandt. Mario, Sohn eines deutschen Vaters und einer italienischen Mutter, wurde wie ich in der Schweiz geboren. Er in Baden. Ich in Liestal. Zwanzig Kilometer Luftlinie voneinander entfernt. Ungefähr so weit, wie Shinjuku von Nihonbashi entfernt. Um in der Topographie Tokyos zu bleiben. Einer hässlichen Stadt, wie Mario im 38. Stockwerk eines neu errichteten, erdbebensicheren Geschäftshauses wiederholt versicherte und uns die am Horizont verschwindende Welt benannte.
Das glaube ich ihm nicht. Eine Stadt ist eine Stadt ist eine Stadt. Ein Moloch ist ein Moloch ist ein Moloch. Eine Molochheimat ist eine Molochheimat ist eine Molochheimat.
Mit Mario kam mir Tokyo weder fremd noch bedrohlich vor.
Wir fuhren nach Asakusa. Zum Tempel der Barmherzigkeitsgöttin Kannon. Beten. Den Segen der Götter erflehen. Prachtvolle Kimonos bestaunen. Mit vielen Hunderttausenden anderen. Nur Hiroko blieb zurück. Sie musste nach der Mittagspause wieder arbeiten. Wir verloren uns nicht. Und versuchten nicht unser Glück. Die Weissagungen waren schlecht, also nahmen wir sie nicht zur Kenntnis, sondern knöpften sie an das dafür vorgesehene Flechtwerk vor dem Tempel. In den Buden rund um den Tempel wurden Glücksbringer verkauft. Wir wollten uns zum kommenden Jahr des Hahns einen Segenshahn für unseren Hausfrieden kaufen. Wolfgang und ich sind beide nach dem chinesischen Kalender Hähne, ja sogar Feuerhähne. Und seit Anbeginn der Zeiten warnen die Weisen vor zwei Hähnen unter einem Dach. Wie uns erst jetzt bewusst wurde, hatten wir auch im Jahr des Hahns geheiratet. Wie leichtsinnig! Die Hausfriedenshähne waren aber ausverkauft, es gab nur noch Guteautofahrthähne und Steigendebörsenkurshähne. Also verließen wir den Sensoji mit leeren Händen und setzten uns in eine winzige Sushibar. Das Auge des Fotografen ist überall. Mario sieht mehr als wir alle zusammen. Hinter der unscheinbaren Schiebetür tauchte das braungebrannte Gesicht eines Kochs auf. Dessen Finger Reisklümpchen kneteten. Fischstückchen schnitten. Die Gäste rückten zusammen und wir gehörten plötzlich dazu. Anschließend fuhren wir nach Shinjuku. Und verloren uns auch hier nicht. Obwohl an der Station wochentags fast so viele Menschen umsteigen sollen, wie die Deutsche Bahn an einem Tag durch ganz Deutschland transportiert. Mario führte uns durch finstere und immer engere Gässchen. Als wir die Nasen am Glaskasten eines Bordells platt drückten, um die Fotos der japanischen Prostituierten (wie blass und unscheinbar!) zu begaffen, stürzte ein Japaner heraus und schrie „Japanese only“. Mario, der so friedliche Fasthelvetier, fuhr das Schlitzauge mit einem aufgeregten Wortschwall an. Lass schon, zupfte ich ihn am Ärmel, wir wollen da doch eh nicht rein. Nach zwanzig Jahren, meinte Mario, kann ich das nicht mehr hören. „Japanese only“. Das glaube ich ihm.
Kurz nach 23 Uhr brachte uns der Bus wieder in unser Zweihunderttausendseelen-Dorf zurück. Wie still es hier ist. Wir verließen den Busbahnhof dieser künstlichen Wissenschaftsstadt mitten im Reisfeld Japans, kauften im Drugstore noch Joghurts fürs Frühstück und Wollwaschmittel. Wie still es hier ist.
Copyright Mario Ambrosius, Tokyo 2005
P.S. Weitere Fotos, made by Mario A., hier:
http://www.juditharlt.de/judithjapanfotos.htm.