Japan2005
Montag, Januar 17, 2005
  Winter in Japan .

Morgen fahren wir nach Niigata. An die Westküste. Dort herrscht richtiger Winter. Morgen sind es drei Wochen, seit wir angekommen sind. Schon so lange denke ich über den Winter in Japan nach. Und komme auf keinen grünen Zweig. Die Bauern in der Kanto-Ebene, sagt Aoki-san, sind reich, weil sie auch im Winter pflanzen und ernten. Die Bauern an der Westküste sind arm, weil auf deren Felder monatelang eine dicke Schnee- und Eisdecke liegt. Zwei Tage Niigata (der Professor hält seinen Vortrag), zwei Tage Toyama (Gespräche und sightseeing, u.a. Besichtigung der Winterbeach), ein Tag Kanazawa (Privatausflug, zweitschönster Garten Japans). Flug nach Tokyo. Bus nach Tsukuba. Samstagnacht schlafen wir wieder hier.

Winter in Japan. Ich habe reife Orangen an Bäumen hängen sehen. Aoki-san spricht von der Hochzeit der Erdbeerernte. Die Schulmädchen radeln in Schuluniformen zur Schule. Kniestrümpfe. Darüber Faltenrock. Dazwischen nackte Beine. Am Morgen immer unser erster Blick aus dem Fenster. Das Feld ist nicht selten raubereift. Kein Bauer harkt gefrorenen Boden.

Es ist, als ob die Kälte nicht zur Kenntnis genommen würde. Nirgends. Weder in den schönsten Gärten des Landes noch in den Wohnungen noch auf der Strasse. In keinem Restaurant kann man seinen Mantel aufhängen. Vorgestern stapfen wir am Chuzenji-See durch hohen, frischen, weichen, sanften, wunderbar unter den Füssen knirschenden, aber nassen Schnee. Mit uns ein paar vereinzelte junge Japaner. In Turnschuhen.

Die Frau, die im Shinkansen nach Utsunomiya hinter uns saß, hatte ein kleines Kind dabei. Es strampelte mit nackten Beinchen und Füßchen fröhlich auf dem Sitz herum. Der Hochgeschwindigkeitszug war gut geheizt. Angeblich sitzen die Kleinen auch mit nackten Beinchen und Füßchen im Kinderwagen. Wenn sie im Januar durch die Stadt in den Kindergarten geschoben werden. Angeblich werden Füße früh abgehärtet.

Heute vor zehn Jahren bebte um 5.50 Uhr die Erde in Kobe. Mario, der in solchen Fällen Dienst vor Ort fürs ZDF schiebt, erzählte, nicht das Erdbeben selbst hätte die meisten Opfer gefordert, sondern die Brände. Die durch umstürzende offene Ölöfen verursachten Brände. In uralten Holzhäusern. Die eigentlich stehen geblieben waren. Aber dann loderten. Wie das Fegefeuer höchstpersönlich. Wir aßen zu Mittag (himmlisch: Ramen, Gyoza + heißen Sake) am Chuzenji-See neben so einem Ofen. Ich streckte seiner blauen Flamme meine kalten Hände entgegen. Und konnte mir ihr Ausmaß an Verheerung gut vorstellen.

In den Tempeln und Landhäusern der Tokugawas ziehen wir wie alle die Schuhe aus und tappen auf Wollsocken über eiskalte, auf Hochglanz polierte Lackböden. Warum nur wir am nächsten Tag wieder Schnupfen haben, verstehe ich nicht. Die alten Frauen in ihren dünnen Nylonstrümpfen sehen gesund aus. Am schlimmsten ist es, wie kürzlich geschehen, wenn unsere lammfellgefütterten Schuhe von Frieda aus Menznau stundenlang vor dem Volkshaus in Tsukuba auf unsere kalten Füße warten müssen. Ob unsere Mütter daran schuld sind, dass wir unter solchen Umständen nicht mehr warm werden können. Wurden wir Nord- und Mittel-Europäer in unserer Alpenkindheit verzärtelten mit langen Unterhosen und dicken Stiefeln? Ich erinnere mich nur noch an den ewige Kämpfe im Frühling um die ersten Kniestrümpfe. Um das erste blutig geschlagene, wochenlang verschorfte Knie.

Geheizt wird, wenn überhaupt, punktuell. Die Klobrille ist sogar auf der schmierigsten Toilette am Bahnhof körperwarm. Aus der Air-condition im Supermarkt strömt irgendwo ein Schwall brennend heißer Luft. Zum Ersticken. Rasende Kopfschmerzen. Werden dir übergestülpt wie eine Duschkappe. Deshalb fragte ich Mario, ob es Wärmflaschen zu kaufen gibt. Das einfachste Mittel, nachts nicht in eiskalte Laken steigen zu müssen. Er schlafe unter einer elektrischen Wärmedecke, meinte er und verneinte. Es gäbe aber Wunderwärmekissen. In beliebigen Größen. Etwas ekelhaft Giftiges, wie ich annehme, das Wärme entwickelt durch Reibung. Handwärme. Wir kauften eine Packung. Der Inhalt fühlt sich sandig an. Außen gibt es eine Klebefläche. Die Frauen kleben sich die Teilchen an schmerzende Körperteile. An das unterkühlte Kreuz. Über den rauschenden Bauch. Die Kissen halten 6 – 8 Stunden warm. Einen ganzen Arbeitstag lang. Alle Empfangssekretärinnen, die ich bisher gesehen habe, tragen in den repräsentativen Empfangshallen Stöckelschuhe und eine karierte Großmutterwolldecke über den Knien. Die Bibliothek im Ninomiya-House ist deshalb so eisig, weil sie offen und fünf Stockwerke hoch ist. Nach unten architektonisch verspielt offen in den Eingangsbereich. Nach oben bis zum Fuji. Im Sommer, denke ich, ist diese Bibliothek bestimmt der angenehmste Ort im ganzen Haus. Kühl, luftig, leise. Im Winter eine Eishölle.

Vielleicht wollen sie ihre Häuser nicht heizen. Meinte gestern mein privates Ganzkörperlebendwärmekissen. Dieses hochtechnisierte Land sollte doch in der Lage sein, Zentralheizungen und zugluftdichte Fensterrahmen zu bauen.

Vielleicht sieht im Sommer alles ganz anders aus. Denke ich. Vielleicht brauchen die Menschen in der feuchten Hitze den kalten Luftzug. Die verschiebbaren Wände. Das transparente Papier.

Den ganzen Tag, die Sonne schien vom frühen Morgen an, Fuji zeigte sich mir durch die Wolken, die Wäsche trocknete auf dem Balkon, drei Hemden ließen sich widerstandslos bügeln, will mir etwas nicht aus dem Kopf: die Meldung auf www.n-tv.de. Moshammer wurde in seiner gut geheizten Münchner Villa erdrosselt. Angeblich wegen 2000 Euro, die er für „erbrachte Liebesdienste“ nicht zu bezahlen bereit war. Was für ein armes Schwein! Hatte sein Lebtag weder kalte Füße noch ein leeres Konto.

Wie schön ist es, im Winter in Japan zu frieren und im Ninomiya-House in dem vom eigenen Ehemann angewärmten Bett einzuschlafen.


 
Comments:
Oh, danke für die Werbung! Aber was nützen die wärmsten Lammfellschuhe, wenn sie nicht an den Füssen sein dürfen? Das nächste Mal, wenn ihr Winter in Japan verbringen wollt, kriegt ihr nur noch Sandalen mit auf den Weg, wegen der Abhärtung.
Schöne Reise an die Westküste!
Frieda
 
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Judith Arlt in Japan. -- Es hat mich in ein Land verschlagen, das sauberer ist als die Schweiz. -- Zu einer Jahreszeit, die ich lieber bei den wildlebenden Kaiserpinguinen auf dem Meereis in der Weddel See verbringen würde. -- Als begleitendes Familienmitglied eines Research Fellows der Japan Society for the Promotion of Science. -- Judith Arlt in Tsukuba Science City, Präfektur Ibaraki.

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