Zu Hause
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Ein Tag in Tsukuba im Apartment 2108 im Ninomiya-House. Die Sonne zeigt sich nicht. Der Tsukubasan hat eine umwölkte Stirn. Der Professor bereitet mir ein schmackhaftes mediterranes Frühstück. Die Verdauung funktioniert wieder. Emails gelesen und nicht beantwortet. Wäsche gewaschen und im Bad per DRY-Knopf getrocknet. Der Stromverbrauch muss nachgeholt werden. Ausgerechnet mit den schwarzen T-Shirts des Professors wurde ein fusseliges Papiertaschentuch mitgewaschen. Überall werden wir gebeten, die natürlichen Ressourcen zu erhalten. Kinder pinselten Papierblätter mit nationalen Werten voll. In bunten Wasserfarben. Jetzt hängen sie im Suiboku-Museum in Toyama. Japan besteht aus 48 Präfekturen. Und in ihnen herrscht ein Kantönligeist wie in den Schweizer Waldstätten. Wieder einen Knopf angenäht. Die üblichen drei Hemden gebügelt. Alle Wäsche, die wir besitzen, kommt heute Abend in den Koffer. Morgen früh fahren wir mit Aoki-san nach Tokyo, der Professor hat einen Termin bei JTB. Ich gehe mit Mario spazieren. Am Abend fliegen der Nachhaltigkeitsspezialist und ich nach Oita, werden von Malcolm abgeholt, verbringen vier Tage in Beppu, kehren sozusagen zu Fuß, das heißt atemlos in diversen Höchstgeschwindigkeitszügen über Huis ten Bosch, Nagasaki, Fukuoka, Hiroshima, Insel Miyajima, Okayama (der allerschönste Garten Japans, Koraku-En), Himeji (größte erhaltene Burg), Kyoto und Nara am 2. oder 3. Februar wieder nach Hause zurück. Die Zeit drängt. Der erste Vollmond des Jahres dräut am Himmel.
Ein Sonntag in Tsukuba. Der Tourismusexperte guckt die Übertragung des letzten Sumotages der Kaiserpokalturnierskämpfe. Ab morgen hat die Verzweiflung endgültig keine Chance mehr. Der Mongole Asashoryu ist bereits seit Niigata nicht mehr einholbar. Seinen gestrigen Ringkampf sahen wir zufällig am Flughafen in Toyama, wo meine Handtasche wegen einer angebrochenen Wasserflasche revisiert wurde. In der Zusammenfassung der high lights während der 19-Uhr Nachrichten. In einem bis auf uns ausländer- und rauchfreien Warteraum. Die Raucher werden hier in luftdichte Boxen gesperrt. Wie Rennstallpferde. Wieder gewann Asashoryu bravourös, das verstanden wir ohne Worte. In dem von lateinischen Buchstaben völlig baren Warteraum. Tsuji-san wunderte sich im zwölften Stock des Bandaijima-Gebäudes, warum ein Ausländer ein so guter Sumoringer sein kann. Die Zeitungen bedauern heute den rückläufigen Besucherandrang im Tokyoter Ryogoku Kokugikan. Außer am Eröffnungstag (8. Januar, in Anwesenheit des Kaiserpaares) und am Wochenende seien die Plätze nie ausverkauft gewesen.
Ein Tag in Tsukuba. Mit Tanizaki Jun’ichiro. Am Schreibtisch, den ich dem Professor weggeschnappt habe. Weil er seinen Arbeitsplatz im zweiten Stock des auf global warming spezialisierten Instituts von Aoki-san bezogen hat. Nicht ich bin in diesem Land toilettenfixiert. Sondern die Japaner fixieren mich auf ihre adretten, sauberen, neu erbauten, berührungsfreien und lichtschrankenempfindlichen Damen-, Herren- und Behindertenscheißhäuschen. Im Schnellzug von Kanazawa nach Toyama zurück realisierte ich gestern, dass es ein Pissoir gibt, sowie eine gemeinsam Sitztoilette für Männlein + Weiblein. Ansonsten stolpern wir auf Schritt und Tritt über die nach Geschlechtern getrennten Örtlichkeiten. Auch im zweitschönsten Garten Japans, im Kenroku-En. Und auch im angeblich einzig erhaltenen authentischen Samuraj-District in Kanazawa. Die Toilettenhäuschen sprießen aus dem gefrorenen Boden wie die Tulpen in Toyama. Sobald der Schnee von gestern vom Straßenpflaster geflossen ist. „Ein Teeraum ist gewiss ein sehr ansprechender Ort, aber noch mehr ist der Abort japanischen Stils so konzipiert, dass der Geist im wahrsten Sinn Ruhe findet“, so Tanizaki Jun’ichiro vor etwa achtzig bis hundert Jahren. Und weiter: „In der Tat, es gibt keinen geeigneteren Ort, um das Zirpen der Insekten, den Gesang der Vögel, eine Mondnacht, überhaupt die vergängliche Schönheit der Dinge zu jeder der vier Jahreszeiten auf sich wirken zu lassen, und vermutlich sind die alten Haiku-Dichter ebenda auf zahllose Motive gestoßen.“ Da wir die Gärten Japans – so wie alle anderen Sehenswürdigkeiten des Landes – im Winter besuchen, werden unsere Füße kalt, zuweilen sogar nass. Aber wir entgehen regulierten Gruppenbesichtigungsströmen und Megafongefechten. An der Kotoji Laterne. Vor dem ältesten Springbrunnen Japans (was für ein Superlativ!). An der Blütenblickbrücke Hanami. Und so weiter. Der Winter hat seine Vorteile. Obwohl mir die Muße und Erhabenheit auf Jun’ichiros Aborten völlig abgeht. Der Garten Kenroku-En erhielt seinen Namen 1822. Angeblich (wen wundert’s) aus einem chinesischen Gedicht über den Garten von Luoyang. Wörtlich meint Kenroku den „Garten mit den sechs Attributen“. Und diese sind: Weite, Ruhe, Künstlichkeit, Altertümlichkeit, Wasser und schöne Aussichten. Die Ruhe haben wir gefunden. Weite in einem japanischen Garten zu suchen, ist müßig. Die Künstlichkeit fehlte nicht, Bäume sind mit Gerüsten befestigt unter denen Äste und Stämme und Knospen verschwinden. Altertümlichkeit – verstehe ich nicht. Das Wasser war in Form von Schnee überall vorhanden, auch außerhalb der Seen und Teiche und Wasserfälle. Schöne Aussichten auf den Beton von Kanazawa. Sanddünen und Berge hüllten sich vornehm in Wolken.
Der letzte Januartag in Tsukuba. Aoki-san kann nicht verstehen, wozu ich Katakana-Silben lerne. Aoki-san ist sich nicht bewusst, dass kōhii (coffee), kamera (camera), kāmēka (car maker) oder kāhiita (car heater), rēnkōto (raincoat) usw. Wörter sind, die ich, wenn ich sie erkenne, verstehe. Aoki-san hat keine Ahnung, dass mir die Tatsache, dass das Japanische kein eigenes Wort für „Regenmantel“ (geschweige denn für Wintermantel) kennt oder dass es ein Wort für „Autoheizung“ aus dem Englischen entlehnt, mir sagt als alle seine freundlichen Begleitungen. Aoki-san kann sich nicht vorstellen, dass ich darüber nachdenke, warum man sich in Japan um die Bodenbeschaffenheit der Straßen bei Schneefall kümmert, nicht im Geringsten aber um Menschen oder gar Frauen. Aoki-san sprach mit dem Shintopriester japanisch, bevor die 18 Delikatessen auf Knien aufgetragen wurden. Und teilte uns dann überflüssigerweise mit, er habe Dr. H. erklären müssen, wie wir Europäer sind. Punkt. Mehr sagte er nicht. Ich habe die Französin Véronique aus Mito im Ohr: „Wichtig ist, was nicht gesagt wird!“ Aoki-san kann mit dem Snowscape-Erfinder japanisch sprechen, so viel er will. Solange er mir nicht eröffnet, über mich gesprochen zu haben. Jetzt werde ich den Gedanken nicht mehr los, etwas falsch gemacht zu haben. In den Augen von Aoki-san. In den Augen eines Shintopriester. In den geschlitzten Augen. All dieser Inselbewohner.