Japan2005
Donnerstag, Februar 03, 2005
  Der Reismehlmaler .

Fuji-san zeigte sich den ganzen Tag nicht. Erst nachdem die Sonne hinter die Wolkenschicht am Horizont gerutscht war, genau um 17.03 Uhr Ortszeit Tsukuba, trat er bescheiden aus dem Gegenlicht. Ich hatte den kurzen Moment wie durch ein Wunder nicht verpasst. Obwohl ich meine Tageslichtroutine erst wieder finden muss. Beide Aufzüge funktionierten und waren frei. Obwohl Nachhausekommenszeit war. Ich trat aus der offenen Tür im 9. Stock und die Sonne blendete mich in genau dieser Sekunde nicht mehr. Noch zartes Abendhimmelrot umgab Fuji-san. Er nickte mir freundlich zu. Am Vormittag war der eine Lift außer Betrieb. Wegen Desinfektion. Zu viele Ausländer wohnen in diesem Haus. Ich hatte die Hopper-Show am Institut für Materialwissenschaft (= „das alleinstehende Haus in der Stadt“, siehe „133 Monde“) vor meinem Fenster geduldig ablaufen lassen. Gierig ein Lichtbild nach dem anderen in den entleerten Kopf gesogen. Als ich vom 9. Stock zurückkehrte, war es 17.16 Uhr und ein neuer Hopper stand vor meinen Augen. Das gefrorene Abenddämmerungslicht am alleinstehenden Haus in der Stadt. Die Sonne geht mittlerweile vierzig Minuten später unter. So lange waren wir unterwegs.

Das Korrekturprogramm hat aus meinem „Reismehlmahler“ (siehe „Hihokan“) einen Reismehlmaler gemacht. Heute vormittag habe ich das Wort und das damit gemeinte ausgestorbene Handwerk kurzerhand in „Reismehlmüller“ abgeändert. Als ob es so etwas gäbe. In dieser einzigartigen Grobheit der deutschen Sprache. Wenn ich zu Hause bin, übertünche ich als erstes meine Texte. Setze ö, ä, ü, ein, ß und An- und Abführungen. Zeichen, die auf Hotelcomputern und in Malcolms Büro unauffindbar sind. Lasse Tippfehler suchen. Grammatische Kongruenzen überprüfen. Vervollständige den polnischen Blog. Lege dort ł, ą, ę, ó, ź, ś, ć, ń, ż nach. Wie Holzscheite in Großmutters Kachelofen. Wie sehne ich mich nach einer warmen Ecke. Übersetze. Suche in der kalten Bibliothek Wörter. Die sind dort zuhauf vorhanden. Heute donnerte sogar warme Luft aus den Lüftungsschächten. „Mięsożerny mnich“ fühlt sich viel poetischer an als „fleischvertilgender Mönch“. Erst beim Übersetzen bin ich über den Reismehlmaler gestolpert. Da stimmt doch etwas nicht. Dachte ich als erstes. Aber dann war es eindeutig Mario. Ich hatte ihn in der Früh per email gefragt, wie er die Kälte in diesem Land seit zwanzig Jahren aushalte. Den Luftzug. Allüberall. Und noch keine Antwort bekommen. Weil er malt. Mit Reismehl. Obwohl das Wort aus den dampfenden Bergen und Vulkanresten über Beppu stammt. Und obwohl Reismehl eher etwas ist für Hildegard in Kleinmachnow. Und ihre krummen Tischbeine. Waldigen Tischplatten. Unebenen Schreibunterlagen für Schriftsteller (siehe "Der Zungenbrechertisch", ab zirka übermorgen auf www.juditharlt.de). Dennoch war es eindeutig Mario. Der mir da entgegentrat. Wie Fuji-san erst bei Tagesendlicht.

In der fensterlosen Küche höre ich das Weltall. Wenn draußen der Wind heult. Durch die Abzugshaube über dem Gasherd. Verbreitet sich ein Echo von weither. Auch wenn kein Schalter auf „on“ steht. Noch auf "weak", "medium" oder "strong". Nicht gekocht wird. Kein Wasser dampft. Keine Suppe sprudelt. Kein Gas zischt. Dann stöhnt die Ewigkeit. Die Häuser sind sehr luftdurchlässig gebaut. Noch verstehe ich den Vorteil davon nicht. In Nara spürte ich unter zwei Bettdecken noch den eisigen Wind am Bauch. Der Professor schlief auf der anderen Seite und wachte mit einer verbrannten Stirn auf. Wir konnten den Ölofen mit der offenen Flamme nicht ausmachen über Nacht, sonst wären wir erfroren. Die Wärme ist ungleich verteilt in diesem Land. Und dennoch nicht abwechslungsreich. Wie die Frauenstimmen. Der Schnee. Die Blütenzucht.

 
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Judith Arlt in Japan. -- Es hat mich in ein Land verschlagen, das sauberer ist als die Schweiz. -- Zu einer Jahreszeit, die ich lieber bei den wildlebenden Kaiserpinguinen auf dem Meereis in der Weddel See verbringen würde. -- Als begleitendes Familienmitglied eines Research Fellows der Japan Society for the Promotion of Science. -- Judith Arlt in Tsukuba Science City, Präfektur Ibaraki.

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