Der Schatten eines Menschen
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Natürlich ziemt es sich nicht, auch nur ein kritisches Wort über Hiroshima zu sagen. Trotzdem ist es für mich der herzloseste Ort der Welt. Die Toten existieren dort nicht. Sie sind aus dem Gedenken verbannt. Ihre verbrannten Seelen aus der friedenspolitischen Manifestation ausgegliedert.
Ich bin nicht Touristin in Japan. Ich verbringe hier zwei Monate mit meinem Mann, der sich wissenschaftlich mit Tourismus beschäftigt. Dies ist für mich relativ unerheblich. Er könnte genauso gut im Institut für Materialwissenschaft vor meinem Fenster untergebracht sein (siehe Foto oben). Und würde dann, trotz seiner Leibesfülle, in eines meiner Hopper-Bilder passen. Ich widme mich hier meinen eigenen Gedanken. Brauche einen Computer und eine Internetverbindung. Mehr nicht. Der Sanjusangen-do oder das meistfotografierte Gebäude Kyotos sind für mich weder ein Muss noch ein Verlust. Ich übe mich in Gelassenheit und warte auf den Höhepunkt meiner Reise. Und verbringe meine Zeit, wie gesagt, möglichst nutzbringend. Wie in einem sonnigen, fußbodengeheizten Wartesaal mit heißem Heilquellenfußbad. Bis ich den größten schlafenden Vulkan der Welt erreicht habe. In dessen Krater ich nur wenige Stunden zubringen kann. Welche aber alle Alpträume, Gliederschmerzen und kalten Füße der Shinkansenwelt aufwiegen. Nach Berlin kehre ich, anders als der Professor, über Washington DC zurück. Das steht schon so lange fest, wie Aoki-sans Schedule für den Japanaufenthalt des Nachhaltigkeitsspezialisten. Der mir heute früh so völlig überraschend mitteilte, dass mich direkt am Washington Dulles International Airport, im Udvar-Hazy-Center, die Enola Gay erwarte. 43 Meter Spannweite, 30 Meter Länge. Paul Tibbits, der Pilot, der in jener klaren Augustnacht um 1.45 h von Guam Richtung Hiroshima abhob, ist erst vor kurzem gestorben. Er soll bis zum Ende seines Lebens den Einsatz „für den Frieden und das Vaterland“ nicht bereut haben.
Natürlich ziemt es sich nicht, irgendetwas am Schrecken von Hiroshima anzuzweifeln oder ins Lächerliche zu ziehen. Der Pilot musste auf Sicht fliegen. Das hat mir die Ausstellung gesagt. Mario schreibt mir „die Leser glauben, Du fantasierst, das gleiche gilt für die AB über Nagasaki. Kokura war an dem Morgen verhangen.“ Die Ausstellung hat mir auch gesagt, dass die Amerikaner bereits 1943 beschlossen hatten, die Atombombe, sofern sie rechtzeitig entwickelt und der Krieg noch nicht zu Ende sei, „auf jeden Fall“ zum Einsatz kommen zu lassen. Um die Herstellungskosten vor dem Volk zu rechtfertigen. Die langjährige Forschungsarbeit. Den Schweiß fleißiger Wissenschaftler. Als „Zielländer“ kamen Deutschland oder Japan in Frage. Deutschland wurde von der Liste gestrichen, weil die Forscher beim ersten Einsatz die Explosion der Bombe nicht mit hundertprozentiger Sicherheit gewährleisten konnten. Wäre die Bombe nicht explodiert, hätten die Deutschen das Know-how geklaut. Den Japanern traute man dies nicht zu. Japan ist bis heute ein sicheres Land. Hier wird nicht gestohlen, nicht gemordet, nicht geheuchelt. Die falschen 500-Yen-Münzen, die seit ein paar Tagen in unglaublichen Mengen im Umlauf sind, stammen wahrscheinlich aus Nordkorea.
Kaltblütig wurde im Frühjahr 1945 die normale Bombardierung der auserwählten japanischen Städte eingestellt. Deshalb entging Niigata zum Beispiel größerer Zerstörung. Die Atombombe sollte eine intakte Stadt treffen. Mitten im Leben. Am hellen Morgen. So das Ansinnen der Erfinder, die das volle Ausmaß an Verheerung sehen , wissenschaftlich verwerten wollten.
Es ziemt sich nicht. Und doch ist es blauäugig anzunehmen, in der Geschichte der Menschheit würden keine Kriege mehr (weiter)geführt, um neue Waffen auszuprobieren. Waffenarsenale zu entleeren. Rüstungsausgaben zu rechtfertigen. Erschüttert hat mich das Denkmal für die Jugendlichen (Memorial Tower to the Mobilized Students). Sie sind umgekommen, weil sie zur Arbeit ins Stadtzentrum eingezogen waren. Häuser abrissen. Eine Feuerschneise um das Bankenviertel zogen. Weil man mit Bomben vom Himmel rechnen musste. Mit verheerenden Bränden. Die Jugendlichen werden jetzt als Volkshelden verehrt, weil sie im Dienst des Vaterlandes gestorben sind. Wären sie nicht mit dieser unsinnigen Abbrucharbeit beschäftigt gewesen, hätten sie den Abwurf höchstwahrscheinlich auch nicht überlebt. Wären heldenlos, wahrscheinlich auf Schulbänken, verdampft. Erschüttert hat mich die Namenlosigkeit. Wo sind die zweihunderttausend nicht identifizierten Toten geblieben? Die Pergamentrolle mit ihren Namen ist angeblich vergraben. Warum vergräbt man Namen Namenloser? Warum schreibt man sie nicht auf die endlosen Gehwege, bohrt sie nicht in den gnadenlosen Beton? Der Peace Memorial Park ist eine gigantische, im Januar natürlich entleerte Aufmarschstelle. Wir sind nun mal im Winter in Japan. Martin Walser warf dem Holocaust Mahnmal in Berlin vor, noch bevor auch nur eine Stele stand, eine „Kranzabwurfstelle“ werden zu wollen. Der Zenotaph in Hiroshima ist so eine Blumengebindeabwurfstelle. Keine Spur von Seelsorge. Ich höre den buddhistische Mönch auf der nahen Insel Miyajima, auf der jahrhundertelang weder gestorben noch geboren werden durfte, lachen. Kranke und Schwangere wurden sofort von der Insel weggeschafft. Heute darf der Reverent die Gaben seiner Gläubigen nicht verschmähen und muss die Ferkel braten, die sie ihm vor die Füße legen.
Um den ordentlich aufgeräumten Schutthaufen rund um die Atombombenkuppel ist ein hoher Metallzaun gezogen. Mehrere Schilder warnen in leuchtendem Rot davor, der alarmgesicherten Umzäunung zu nahe zu kommen. Brandspuren sind von der Ferne keine zu erkennen. Ich bin enttäuscht. Wolkenkratzer ragen stolz in den Himmel.
Im Museum der Schatten eines Menschen. Auf einer Steinstufe. Hinter Glas. Eine Legende. Eine Lüge. Und doch ein Bild, das mir nicht mehr aus dem Kopf will. Angeblich stammt der Stein von einer Treppe zu einem Bankgebäude. Angeblich wartete vor der Bank am 6. August 1945 um 8 Uhr 15 ein Mensch, bis die Bank ihre Schalter öffnete. Angeblich war es eine Frau. Angeblich soll sie zu Zeitpunkt des Abwurfs auf der Stufe gesessen haben. Nichts ist von ihr übrig geblieben, als ein Schatten. Den ich – würde ich es nicht auf der Erklärungstafel daneben lesen – als solchen nicht erkennen würde.
Tanizaki Jun’ichiro schreibt in seinem „Lob des Schattens“, dass die Frauen der Generation seiner Mutter kaum einen Körper besessen haben. „Ich erinnere mich außer an das Gesicht und die Hände meiner Mutter nur noch undeutlich an ihre Füße, jedoch nicht an ihren Leib. Dabei kommt mir der Körper jener Kannon-Statue im Chūgūji (ehemaliges Frauenkloster) in den Sinn. Wirkt sie als nackte Figur nicht geradezu wie ein Modell für die japanische Frau vergangener Zeiten? Die einem Brett vergleichbare, platte, mit einer papierdünnen Büste markierten Brustpartie, der noch stärker eingezogene Bauch, die schnurgerade, durch keine Unebenheit beeinträchtigte Linie von Rückgrat, Hüfte und Hinterteil, dieser Rumpf in seiner Gesamtheit ist verglichen mit dem Gesicht und den Gliedern unverhältnismäßig abgemagert, ohne Fülle, und macht weniger den Eindruck eines Köpers als den eines Stocks ohne Taille. Waren nicht die Frauenkörper vergangen Zeiten weitgehend von dieser Art? In der Tat ist der Körper solcher Frauen ein Stock, um daran die Kleider zu befestigen, nichts weiter!“
Der Schatten einer Frau im Museum. In einem Land, in dem das Leben seit eh und je zweigeteilt ist. In einen Bereich mit Schuhen (draußen) und einen ohne Schuhe (drinnen). In einen Bereich der Männer (draußen) und einen der Frauen (drinnen). Warum sollte im August 1945 ausgerechnet eine Frau auf einer Steinstufe vor einem Geldinstitut sitzen? Wo doch heute nicht einmal die ausgelassenste Tokyoter Schuljugend sich irgendwo auf den Boden setzt? Es gibt nichts schmutzigeres als Schuhsohlen (ich frage mich, wer in diesem Land Schuhflicker wird und was Frieda, wäre sie als Japanerin geboren worden, wohl täte). Schuhe sind schmutzig, auch Strümpfe. Sauber sind nur nackte Füße. Nur nackte Frauenfüße, die den ganzen Tag die Tatamiwelt nicht verlassen. Was Schuhe berühren, muss schmutziger sein als die Steine. Denn Schuhe sammeln den Schmutz mehrerer Steine. Es ist unvorstellbar, dass ein Mensch – und schon gar nicht eine Frau – ihr Kleid mit Stellen und Steinen in Berührung bringt, die Schuhe mehrerer Menschen betreten. Auch nicht im Krieg. Und nicht im Hochsommer 1945.
Ich habe den Glauben an vieles verloren in diesem Land. Und bin gleichzeitig so vollkommen illusionslos geworden. Morgen früh fliegen wir nach Sapporo zum Schneefestival. Am Montag tut der Professor dort seine Pflicht. Dienstag Nacht kommen wir zurück. Es kann sein, dass ich zwei Tage ohne Internetzugang bin. Das wird mich wieder krank machen. Danach berichte ich von den schönen Dingen, die ich gesehen habe.