Japan2005
Freitag, Februar 18, 2005
  Die Gnade der fremden Sprache .

Der japanischen Sprache bin ich kein bisschen näher gekommen. Ich buchstabiere einige Katakana-Silben und erkenne höchstens ein Fremdwort. Wir packten heute 20 Kilogramm Papier ein. Bücher. Manuskripte. Thesen. Themen. Pläne. Parkanlagen. Wegbeschreibungen. Ich habe nun gar nichts mehr. Woran ich mich festhalten, worauf ich mich beziehen könnte. Auch Tanizaki Jun’ichiro ist aus der Griffbereitschaft verschwunden. Und die beiden Shinkansen-Fahrpläne, die der Professor wegwerfen wollte, stecke ich in einen Briefumschlag des Hotels Nikko aus Niigata. Der Nachhaltigkeitsspezialist weiß, worauf es im Leben ankommt. Welchen Einfluss ein Hotelzimmer auf Weiterreise und existenzielle Bedürfnisse nehmen kann. Hat deshalb bereits in Niigata zwei Briefumschläge mitgenommen. Für alle Fälle. Die Klappe ist gummiert. Ich staune – zum wievielten Mal seit dem zweiten Erdbeben? In Beppu ließ ich mir sagen, aus hygienischen Gründen sei in diesem Land alles, was mit menschlichem Speichel in Berührung kommen könnte, abgeschafft worden. Küssen verboten. Ich adressiere den Umschlag an meinen Freund Wojtek in Bydgoszcz. Er ist habilitierter Sozrealimusspezialist und erforscht seit Jahren das Literarische von Fahrplänen, Eisenbahnschienen und Wagenrädern.

Eine Sprache ist eine Krankheit. Manchmal unheilbar. Die Japanerin, neben der ich mich gestern Abend zufällig fand, erzählte mir, sie hätte ein behindertes Kind. Eine gesunde Tochter. Und einen mongoloiden Sohn. Man würde sie und ihre Familie bemitleiden, weil sie in den Augen der uniformen japanischen Gesellschaft unglücklich sein müssten. Und weil die Familie unglücklich sei, würde verziehen, dass die Tochter Klassen- und Schulbeste sei. Dies würde akzeptiert, weil dadurch die Familienintelligenz im unscheinbaren Mittelmass bleibe. Sie lacht. Kämpft. Um den Platz in der normalen Schule. Mit den Ärzten. Gegen die Lehrer. Immer wieder.

Das behinderte Kind schreibt am Nachmittag, wenn es aus der normalen Schule kommt, Haikus. Summt vor sich hin. Findet seine eigene Sprache. Seine eigenen Bilder.

„Auf einen Nagel, der hervorsteht, haut man drauf“. Einer der ersten Sätze, die ich über Japan gelesen habe. In einem Reiseführer. Aus Langeweile. Am Flughafen. Beim Umsteigen in Wien. Angeblich ein Sprichwort, welches japanischen Kindern in der Schule vom ersten Tag an eingetrichtert wird. Wie die Maßregel, bei einem Erdbeben unter den Tisch zu kriechen und die Tischbeine festzuhalten. Ich war noch in keiner japanischen Wohnung. Aber die Tatamiräume, die ich in den traditionellen Inns sowie in Museen, Tempeln, Gärten und Burgen gesehen haben, kennen kein Mobiliar. Keinen Tisch, unter dem ein Mensch Platz fände. Geschweige denn eine Familie. Mutter mit Kind. Das Leben spielt sich traditionell am Innenfußboden ab. Und wird von keinen Schuhen berührt.

Seit dem zweiten Erdbeben steht in der Eingangshalle des Ninomiya Houses ein Stuhl. Darauf eine Kiste. Darin ein Berg schwarzweißkopierter und von Hand zusammengeklammerter Broschüren „Earthquake Emergency Procedures“. Fünfsprachig. Japanisch, englisch, koreanisch, pekinchinesisch und spanisch. An der Stuhllehne klebt in Zettel. „Please feel free to take one“. Eine ungewohnt freundliche Geste der Administration. Das Erdbebennotfallprocedere funktioniert ausschließlich mit Männern. Männer weisen Wege, Männer ergreifen Feuerlöscher, Männer öffnen Türen, Männer bergen Verschüttete. Mütter hingegen sitzen unter Tischen. Mädchen tragen Verbandskästen. Sie gucken dumm in die Welt. Mit kugelrund geöffnetem Mund.

Die zweite Japanerin unter den internationalen Frauen sagt, nachdem Fotos geschossen und Plätze getauscht wurden, die englische Sprache befreie sie. Das Japanische enge sie ein. Ja, bedrohe sie. Ihre Muttersprache setze sie schutzlos negativen Gefühlen anderer aus. Neid. Missgunst. Eifersucht. Sie versetzt meiner undankbaren Haltung in diesem Land weitere heftige Stöße. Wie das zweite Erdbeben in der Nacht. Ich bin erschüttert. Da auch ich oft genug aus der Muttersprache fliehe. Aus hinterlistigen, übermütigen Gründen. Im Polnischen kann ich mich austoben. Die fremde Sprache macht mich frech. Sie beschränkt mich notgedrungen. Engt ein. Weist mich in ihre (nicht meine) Schranken. Alle Defizite an Wortschatz, Grammatik und Stilistik muss ich überspielen. Kreativ und hochnäsig. In der fremden Sprache begehre ich auf wie ein übermüdetes Kind. Die zweite Japanerin hingegen sagt, sie könne überhaupt erst in der fremden Sprache über sich selbst sprechen. Offen und unendlich. Ich staune. Wir sitzen bis weit nach Mitternacht zusammen. In der englischen Sprache. Zum Abschied begleite ich sie in die Parketage. Ich bin nicht sicher, ob das Ninomiya House sie so spät noch entlässt. Sie umarmt mich vor dem Auto. Die Schranke springt hoch. 
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Judith Arlt in Japan. -- Es hat mich in ein Land verschlagen, das sauberer ist als die Schweiz. -- Zu einer Jahreszeit, die ich lieber bei den wildlebenden Kaiserpinguinen auf dem Meereis in der Weddel See verbringen würde. -- Als begleitendes Familienmitglied eines Research Fellows der Japan Society for the Promotion of Science. -- Judith Arlt in Tsukuba Science City, Präfektur Ibaraki.

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