Japan2005
Mittwoch, Februar 16, 2005
  Erschütterungen .


foto: für frieda zur späteren freude

Gewürze. Gedächtnis. Gefühle. Gesang. Gewackel.

Erdbeben sind wie Vulkanausbrüche. Sie haben eine lange Vorgeschichte.
Vom Epizentrum des Erdbebens dieser Nacht waren wir in Tsukuba nur vier Kilometer entfernt. Der einzige Schwerverletzte ist ein 65-jähriger Mann, der in seinem Haus in Tsukuba die Treppe hinunterstürzte. Wahrscheinlich weil er sich an die offizielle Notfallanweisung seines Landes halten wollte, im Falle eines Erdbebens unter die Tür zu treten.

Unsere Geschichte des Erdbebens, das um 4:44 Uhr rund 65 Kilometer unter der flachen und erdreichen Kantō-Ebene, dem größten Reisfeld des Landes, am südlichen Ende der Ibaraki-Präfektur seinen Lauf nahm, begann gestern Abend im Dhaba India in Süd-Yaesu, Tokyo mit einer Erschütterung der Geschmacksnerven. Hungrig nach dem Gespräch mit Makiko in Meguro (völlig ausgetrocknetes Büro) und vor dem Frauenjazz in Ginza (die Bar schwarz wie die Nacht), kamen wir zufällig an dem tamilischen Restaurant vorbei. Guckten. Nickten. Warum nicht einmal etwas anderes. Bereits unter der Tür stachen mir die scharfen Gewürze in die Nase. Ein tamilischer Koch an der offenen Kochstelle. In der Schweiz stehen solche Menschen am Abwasch. Sein Hühnercurry scharf und blattgrün. Der Riesengarnelencreamcurry nach Madras Art sämig und orangenfroh. Masala Dosa mit Pfefferminzzimtsosse. Hinterhältig die Unschuld von körnigem Basmatireis. Aufgeblähtes Naan. Geschmackssensationen nach sieben Wochen farbloser Kost! Japanisches Essen ist gut aber ungewürzt. Frisch und unscheinbar. Ich hatte mich so daran gewöhnt, dass mir schien, es sei das einzige, was mich hier wirklich am Leben halte. Und nun lassen plötzlich ein paar kunterbunt gemischte indische Gewürze alles zusammen einstürzen. Die ganze selbstgemachte Spielkartenwelt. An der Wand hingen Schuhe. Saumselige Schuhe. Südindische Tempeltanzschnabelschuhe (siehe Foto oben). Glitzernde, paillettenbesetzte Kopfstehschuhe. In Japan. An der Wand. Nicht vor der Tür. Wir tranken Wasser. Frieda, schoss es mir durch das klare Kopfstehen. Wandabwärtslaufen. Und der grüne Curry trieb mir Tränen in die Augen. Friedas Geburtstag. Alle Jahre wieder. Erinnere ich mich an Friedas Geburtstag nur zeitverzögert.

Unsere Geschichte des Erdbebens, das um 4:44 Uhr begann, weil die Nordspitze der philippinischen Erdplatte ein winziges Stückchen weiter unter die Amur-Platte rutschte, nahm seinen Anfang im vierten Stock des IK-Gebäudes in einem unterteilten Großraumbüro bei mindestens 28° Raumtemperatur. JES (Japan Ecotourism Society) hat dort einen durch dünne und durchsichtige Trennwände abgeteilten winzigen Raum zur Verfügung, in dem zwei mit Papieren übersäte Schreibtische stehen. Das Gespräch fand in einer offenen Besprechungszelle statt. Jeder, der vorüber ging, und es gingen viele vorüber, konnte über die Rückenlehne meines, ihres und seines Stuhls gucken. Vielleicht ist es manchmal eine Gnade, nicht japanisch zu sprechen. Makikos englische Offenheit. Oder mein Irrtum. Seit ich das Erdbeben in den Knochen habe, weiß ich, dass nichts so ist, wie ich in meiner Undankbarkeit denke. Die Gefühlsverwirrung. M. unterbricht den Professor und berichtet seelenruhig, den Japanern fehle es nicht nur an Liebe zur Natur – die Kirschblüte ist ein „event“ geworden, ebenso die Umeblüte, die Ahornblüte und das bunte Herbstlaub –, sondern an Liebe zu den Menschen. Ein ebenerdiges japanisches Gesicht. Ungeschminkt. Haar ohne Henna. Fingernägel ohne Lack. Die Meiji-Reform brach zu abrupt mit der dreihundertjährigen Edo-Zeit und Samurai-Tradition. Alles wurde umgekrempelt. Auf die vollständige Isolierung folgte der gnadenlose Wettlauf. Mit dem Ausland. Mit dem Westen. Weder die Seelen noch die Köpfe noch die Füße der Menschen kamen mit. Die Atombomben fielen auf ein bereits liebesentleertes Land. Sagt M. und guckt zur Decke. Wahrscheinlich, denke ich, ist sie kurzsichtig und trägt Kontaktlinsen.

Die Geschichte der Gefühlsverwirrung nahm ihren Fortgang im vornehmen Geschäfts- und Vergnügungsviertel Ginza. Wir gingen zu Fuß. Von der Tokyo-Station aus. Zum ersten Mal bekam ich ein warmes Gehgefühl in die Füße. Von einem Busbahnhof, einem JR-Line-Bahnhof, einem Shinkansen-Bahnhof, einem Untergrundbahn-Bahnhof. Kann man laufen. Irgendwohin. Weglaufen. Und Jazz hören. Eine warme Frauenstimme. Eine gefühlvolle Frauenstimme. Ausgerechnet in der tiefschwarzen Bar unter der Erde. Sie singt vom blauen Himmel und vom Flug zum Mond. Ausgerechnet. Und die grölenden Herren im Anzug. Mit glasigen Augen. Auf drei Mann eine Frau. Es ist plötzlich egal geworden. Wie maskulin sich die Welt hier maskiert. Wir müssen früh wieder los. Wir wohnen auf dem Lande. Den Gedanken, in Tokyo zu übernachten, hatten wir irgendwann schnell verworfen. Der Professor hätte ein sauberes Hemd gebraucht. Ich hätte mich darauf verlassen können, dass in diesem Land in jedem Hotelzimmer eine hygienisch verpackte Zahnbürste mit einer kleinen Tube Zahnpasta wartet. Auf den Strassen von Ginza torkelt in der Nacht das Maskuline und betreibt „the common form of civil pollution“ (Hiroshi Kondo, The Book of Saké, S. 95).

Unsere Geschichte des heutigen Erdbebens, das offiziell um 4:46:38 Lokalzeit begann und eine Stärke von 5,4 auf der nach oben offenen Richterskala erreichte, ist sowohl nach vorne wie nach hinten offen. Die Zeit ist aus der Welt gefallen. Das Haus ist unruhig und auf Empfang eingestellt. Es bekommt Impulse von der Erde. Bewegungen von den tiefen Schichten. Nachgeben von den Platten. Über uns existiert nichts mehr. Die acht Stockwerke aus Stein sind wie weggeblasen. Der Himmel von der Ewigkeit verschluckt. Die Regenrinne ragt sinnlos in die Höhe. Der Raum in der Nacht vom Bett aus gesehen besteht nur aus der Zimmerdecke. Die Vorstellung, sie könnte herunterkrachen, ist so absurd wie der Gedanke aufzustehen. Wegzulaufen. Eine Tür zu suchen. Oder einen Tisch. Und seine Beine. Sie mitzunehmen. Oder sich daran festzuklammern. Die Unruhe des Hauses ist in die Knochen und die Kochtöpfe eingegangen. Zum Glück haben wir das Gas abgestellt. Ein isolierter Gedanke. Weil wir nach Tokyo fuhren. Eine in sich abgeschlossene, nutzlose Logik. Die Küchenschränke lassen sich erst wieder öffnen, wenn das Geschirr zur Ruhe gekommen ist. In Japan gibt es kein zerschlagenes Porzellan. Tanizaki Jun’ichiro stellt schlüssig dar, warum Misosuppe in eine schwarze Lackschale gehört und nicht auf einen weißen Serviceteller. Die Menschen können erst wieder gehen, wenn die Gedanken in Ordnung gekommen sind. Der Kopf wird erst richtig wach, wenn das Tageslicht draußen angebrochen ist. Und der Himmel sich wieder herablässt. Im Traum hört das Gefühl des unfesten Bodens unter den Füssen nie wieder auf. Der Rücken und der Hinterkopf liegen auf Wellen auf. Die Nackenmuskulatur ist so elastisch wie das gemauerte Haus. Das Haus ist nach Wien gezogen und sitzt in einer Pferdedroschke. Es besteht nur noch aus unserer Matratzenauflage und der Zimmerdecke darüber. 
Comments:
Da hängt der Himmel aber nicht voller Geigen!!!
Und ich bin heilfroh, dass euch die Decke nicht auf den Kopf gefallen ist. Das ist ja richtig gefährlich in diesem Land.
Macht's gut und liebe Grüsse
Frieda
 
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Judith Arlt in Japan. -- Es hat mich in ein Land verschlagen, das sauberer ist als die Schweiz. -- Zu einer Jahreszeit, die ich lieber bei den wildlebenden Kaiserpinguinen auf dem Meereis in der Weddel See verbringen würde. -- Als begleitendes Familienmitglied eines Research Fellows der Japan Society for the Promotion of Science. -- Judith Arlt in Tsukuba Science City, Präfektur Ibaraki.

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