Haarspaltereien
.
Gestern war ich mit Mario in Shinjuku in der größten internationalen Buchhandlung des Landes. Nachdem der Flughafenbus mit Professor und Koffer an Bord von der Tokyo Station losgefahren war. Natürlich hätte ich mich besser vorbereiten können. Müssen. Viel besser. Auf zwei Monate Japan. Rhea fliegt heute von LA über Honolulu nach Kahului. Der Mond ist schon wieder fast kugelrund und steht bereits am frühen Abend am Himmel. Ich konnte letzte Nacht nicht einschlafen. Obwohl kurz vor dem Lichterlöschen eine email aus dem Peace Hotel Peking einging. Die Füße wollten trotzdem nicht warm werden. Draußen dräute der Mond. Durch die Nachtregenwolkenwand.
In der größten internationalen Buchhandlung sah ich Bücher liegen, die ich natürlich alle hätte lesen können. Müssen. Und noch viele mehr. Während zwei Monaten in Japan. Habe ich nichts gelesen. Ich blätterte in dem einen. Und anderen. Ein Ratgeber für ausländische Frauen. Tipps für alle Lebenslagen. Wo kaufe ich Schuhe, die passen. Röcke, die lang genug sind. Blusen, Oberteile mit ausreichend Brustraum. BHs, Dessous usw. Das Kapitel „Haarpflege“ flog auf. Auch ich muss dringend etwas gegen meinen Altersansatz am Hinterkopf unternehmen. Bevor ich mit Rhea auf den Vulkan steige. Der Ratgeber bietet eine Checkliste für den Frisörsbesuch an. Ich habe nicht die Absicht, zum Frisör zu gehen. Brauche nur das richtige Tönungsshampoo. Den richtigen Farbton. Ohne Hennarot. Und ohne Ossilila. Frau muss sich versichern, schreibt die Checkliste im Ratgeber vor, dass der Frisör/die Frisöse gut englisch spricht. Frau muss nachfragen, wo der Frisör/die Frisöse seine/ihre Ausbildung gemacht hat. Frau muss darauf beharren, eine Statistik vorgelegt zu bekommen, wie viele ausländische Kundinnen der Frisör/die Frisöse durchschnittlich pro Jahr bediene. Ich lege das vier Zentimeter dicke Paperback zurück. Ich schlucke leer. Papier ist geduldig. Die Luft trocken. Die Welt eingebildet. Was würde meine Berliner Frisöse sagen, wenn eine großmäulige Amerikanerin ankäme und ihren Meisterbrief sehen wollte?
Auf einer der vielen Rolltreppen frage ich Mario, warum er in diesem Land lebe. Er zuckt mit den Schultern. Lächelt nachsichtig. Er spreche die Sprache. Habe seine Freiräume. Geschaffen. Dabei erdrücken einen hier die Komplexe beider Seiten. Denke ich. Der Nachhaltigkeitsspezialist, der in dem Moment in Narita vom japanischen Boden abhob, in dem ich einen japanischen Frisörsbesuch weit von mir wies, hatte mir mit gewohnt wissenschaftlicher Präzision dargelegt, warum dieses Land genau so langweilig und nervtötend sei wie Amerika. Natürlich mit gezielt objektivem Vokabular. Da ich nicht seine Studentin bin, brauche ich seine Worte hier nicht zu wiederholen. Auch bin ich keine Schweizer Milchkuh. Futtergras wiederkäuende Eiweißproduzentin. Kürzlich tauchte im Internet die Schlagzeile auf, dass im Nordwestschweizer Kanton Jura das Salz ausgegangen sei. Es herrsche Streusalzmangel. Straßenstreusalznot. Auch im Oberbaselbiet schneite es fast so heftig wie in Niigata.
Die Frage bleibt, bei aller Bescheidenheit, was denn in diesem Land unsere Kreativität am Leben hält. Mario fotografiert seit zwanzig Jahren in diesem Land. Ich tippe seit zwei Monaten täglich mit der Routine einer Chefsekretärin. Ließe man mich dies nicht tun, wäre ich längst erstickt. An der Sauberkeit. An der Einordnung. Am Gleichklang. Fiele plötzlich der Strom im Ninomiya House aus, müsste ich mich nach spätestens vier Stunden, für so lange saugt sich mein Laptop mit Elektrizität voll, vom Balkon stürzen. Gestern ist mir plötzlich bewusst geworden, dass ich seit zwei Monaten in keine einzige Hundescheiße getreten bin. Nicht weil ich etwa unentwegt das Glück hatte, daneben zu treten. Sondern weil in diesem Land Hunde nicht auf die Strasse scheißen. Erleuchtungen kommen immer ungefragt.
Ich kaufte in der Nacht, auf dem Heimweg, da auch sonntags Drugs bis Mitternacht geöffnet hat, eine Packung Haartönung. Ich wählte nach den Bildchen für die Taubstummen. Ich wollte keine Farbschmiere, keine Pinselei. Ich bin nicht Malerin. Sondern Handwerkerin. Ich wollte eine Tube, deren Inhalt ich in eine Lösungsflasche drücken kann. Wie ich das von Ostberlin gewohnt bin. Ich wählte nach Zeitangaben. Wie lange das Emulsionsgemisch auf dem Kopf zu verbleiben hat. Zahlen kann ich lesen. Zehn Minuten kamen mir so verdächtig vor wie das Vollwaschmittel, das ich nur bis 30° benutzen soll. Ich überprüfte den Inhalt der Packung. Ich habe mir hier angewöhnt, sämtliche Verpackungen zu öffnen. Was der Verstand nicht greift, wird oft den Fingerspitzen klar. Was ich dann erblickte, überraschte mich trotz der späten Stunde: In der Packung lag ein kleiner Kamm. Er lässt sich auf die Emulsionsflasche aufschrauben. Die Zähne des Kamms haben Löcher. Die Plastikflasche ist nachgiebig. Unter Druck von Handfläche und Fingerbeeren tropft die Tönung durch die Löcher des Kamms in den Haarboden. Ich kämme die Haare und verteile die Farbe natürlich vorteilhaft. Mein Gott, warum hat man so etwas Simples noch nicht anderswo erfunden? Ein durchlöcherter Plastikkamm mit Schraubgewinde zur Haarsträhnenspalterei.