Japan2005
Donnerstag, Februar 10, 2005
  Ikeda .



Die einzelne rote Rose, die gestern Abend zwischen Lauch, Chinakohl und Mandarinen durstig aus der Plastiktüte hervorguckte, gilt dem heutigen Feiertag. Ich habe Kopfschmerzen. Es mag eine Reaktion auf das Frühlingswetter sein (wie gesagt, hierzulande nebelverhangen wie am Unteren Belchen). Oder auf den nicht mehr gewohnten Genuss von 37,5 cl Freixenet brut. Bis Mitternacht feierten wir beim ersten schwarzen Fläschchen unser Jahr des Hahns. Ab Mitternacht feierten wir mit dem zweiten halben Freixenet 134 überstandene Ehemonate zweier Feuerhähne. Oder auf meine tiefste Betrübnis. Der Nachhaltigkeitsspezialist brachte gestern Abend außer Gemüse, Blumen und Sekt auch die Nachricht nach Hause, im Internet das Tagebuch eines Berliner Ehepaars entdeckt zu haben, das seit Oktober in Tsukuba lebe. Die Neugier stach mich und so konsultierte ich es noch vor Mitternacht, zwischen dem ersten und dem zweiten halben Freixenet. Und wurde erschlagen von enzyklopädischer Wucht. Der Website (nach Meinung des Professors ein deutsches Wort männlichen Geschlechts) öffnet sich wie ein unendlich allwissendes Nachschlagewerk. Japan in Berlin. Berlin in Japan. Krankenhaus. Büro. Eisenbahn. Fahrrad. Bus. Reiskocher. Bahnhof. Frisör. Feuerwehr. Und so weiter und so fort. Eine alle Bereiche der menschlichen Existenz umfassende Dokumentation. Eine alles ins richtige Bild rückende Fotoreportage. Herrgottnochmal. Und ich zerbrösele meine Tage mit Belanglosigkeiten. Wäschetrocknen und Wörtersuchen. Der größte Schock war der Eintrag von gestern. Natürlich. Schreibt auch Er (Sie schreibt sehr viel weniger als Er) über das Fußballspiel. Wo ich mich begnüge mit einer Bemerkung, dass der japanische Torschütze schiefe Zähne und nackte Beine habe wie alle Schulmädchen in diesem Land, da liefert Er, bekennender Experimentalphysiker, Fakten und Hintergründe zum seit Jahrzehnten angespannten japanisch-nordkoreanischen Verhältnis. Ich bin am Boden zerstört.

Das erste Kopfweh in Japan. Statt Sonnenuntergang. Die erste Sinnfrage. Bin ich ein Lexikon oder eine Frau? Liefere ich Informationen oder Gefühle? Zahlen oder Einschätzungen?

Irgendwann, noch zur Edo Zeit wurden von allen Dingen die drei besten im Lande festgelegt. Und bis heute nicht verändert. Obwohl sich alles rund herum kolossal verändert. Zubetoniert wird. An die Schnellstrassen angebunden. Oder an die kreuzungsfreien Superhochgeschwindigkeitszüge von und nach Tokyo. Die drei besten Landschaftsansichten (eine davon ist die Insel Miyajima), die drei besten Wasserfälle, die drei besten Brücken, die drei besten Vergnügungsviertel, die drei besten Berggipfel, die drei besten Waldseen, die drei besten Fichtenhaine, die drei besten Steinlaternen, die drei besten Plumpsklos. Und so weiter und so fort. Und natürlich auch die drei besten Gärten Japans, hier in der Reihenfolge unserer Besichtigung: Kairaku-En in Mito, Kenroku-En in Kanazawa, Koraku-En in Okayama. Der beste – oder besser gesagt, der schönste – für mich war der letzte. Vielleicht, weil ich nach der Herzlosigkeit von Hiroshima und vor dem Eissturm in Nara mich mehrere Stunden darin aufgehalten habe. Oder weil ich absolut voreingenommen war, da Tsuji-san schon in Niigata uns zu sensibilisieren suchte für ungewöhnliche Wasserläufe; auch eine der Übersetzerinnen von Dr. Funck auf Miyajima interviewte uns hartnäckig, ob denn unserer Meinung nach der Garten von Mito tatsächlich zu den besten drei gezählt werden dürfe (als ob ausgerechnet wir da irgendein Wort mitzureden hätten). Oder weil ich mich im Laufe der Zeit an die japanischen Gärten im Winter gewöhnt hatte. Oder weil wir nie die Schuhe ausziehen mussten. Weil keines der Häuser von innen zu besichtigen war. Oder weil der Wind um die Ohren blies. Weil die Sonne in den Locken des Professors eine alte Weise spielte. Oder weil das Abscheuliche der Stadt für einmal in die unsichtbare und unhörbare Ferne gerückt war. Oder weil die Füße warm blieben. Weil uns eine Musikstudentin auf Deutsch ansprach. Weil ich gut geschlafen hatte. Ausgezeichnet gefrühstückt. Einen Blogeintrag gepostet. Nicht überfordert war mit Koffer und Packen. Weiß der Teufel. Warum.

Der schönste Garten Japans. Wir betraten ihn über die alte Tsurumi Brücke. Und verließen ihn durch das Südtor auf der haarsträubend modernen Tsukimi Brücke. Das Vorhandensein der Brücken lässt auf eine Insel schließen. Und der Tatbestand der Insel bewahrt den Garten seit Jahrhunderten vor Schlimmerem. Koraku-En wurde 1687 von Ikeda Tsunamasa, dem Chef des Okayama Clans, in Auftrag gegeben. Und 1700 nach seinen Wünschen und Vorstellungen vollendet. Die klugen und weitsichtigen Ikedas waren von Anfang an besorgt um eine Bilddokumentation. Sie beauftragten Maler der Zeit, den Garten zu allen Tages- und Jahreszeiten zu porträtieren. Deshalb konnte er nach den Hochwasserschäden von 1934 sowie nach den Bombardierungen von 1945 wieder originalgetreu bepflanzt und hergerichtet werden.

Der schönste Garten Japans. Vor den Verheerungen aller Zeiten und Gewalten bewahren ihn seine natürliche Lage und der Asahigawa. Das Wasser. Die Stadt mit ihren seelenlosen Baumeistern bleibt für immer außen vor. Der einzige Garten, in dem es wirklich still ist. Der einzige Garten, der ein Reisfeld besitzt. Der einzige Garten, in dem das Wasser stumm fließt. Bergauf. Und Hügelan. Der Schnee war weggeschmolzen. Die Felder lagen brach. Und dennoch war das Reisfeld eine Erleuchtung (siehe Foto oben, weitere Fotos der letzten Tage auf www.juditharlt.de, Japan-Fotos3). Der Professor erkannte im Burgmuseum am westlichen Flussufer, dass der Name der Familie – Ikeda – aus den beiden Kanji-Zeichen für Teich (ike) und Reisfeld (da) bestand. Er erkannte auch, was mir und allen ungebildeten Menschen dieser Erde natürlich verborgen bleiben muss, dass die Familie auf gute Bildung achtete. Die ausgestellten, auf seidene Rollbilder montierten Kalligraphien der einzelnen Mitglieder zeugten von hoher Qualität. Tat der Professor gelassen kund. Und folgerte daraus, dass der Garten sozusagen eine sorgfältig und spitzfindig angelegte Geschlechtergeschichte sei, ein tatsächlich verwurzelter Stammbaum der Familie. Er besteht aus quadratisch angelegten Feldern (Seiden – die Reisplantage, Teeplantage), weitläufigen Obstgärten (Pflaumenbäume, weiße Kirschen, rote Kirschen, gemischtfarbene Kirschen), dem Ahorngarten (Chishio-no-mori) diversen Hügeln (u.a. der Yuishinzan-Hügel für die Beschauung des Vollmondes), sowie mehreren Teichen (Sawa-no-ike, Kayo-no-ike, Kako-no-ike), Wasserfällen und Kanälen. An Bebauungen sind zu nennen die Noh-Bühne, mehrere Teehäuser, Gästehäuser und Fischerhäuser, Schreine, Tempel und ein Kranichhaus. Ein ungezwungenes Zusammenspiel von Sinn und Form. Von Schrift und Wort. Von Geist und Geld. Reis und Tee. Wasser und Land. Ike und Da.

Der schönste Garten Japans. Ungewöhnliche Weite. Ungewöhnliche Ruhe. Ungewöhnliche Freundlichkeit. Der Garten (siehe auch „Koraku-En“) der späteren Freude. Wir sind alt geworden. Am letzten Januartag. Öder kann ein Feld auch in Japan zu keiner anderen Jahreszeit aussehen. Der Professor fotografiert erste Versuche von Pflaumenblüten. Installiert ein neues Bild als Bildschirmschoner. Computergeschichte. Alles bar jeglicher Materie. Ich habe keine Ahnung, was ein Experimentalphysiker eigentlich tut. Ich experimentiere mit roten Rosenblättern, mit der Frühjahrsfeuchtigkeit, dem überraschenden Kopfwehwind vom Tsukubasan und eisgekühltem Kartoffelsake aus Hokkaido. 
Comments:
Hallo Judith
Sei nicht so betrübt, mir geht es doch immer so, wenn mir dein Gemahl etwas expliziert!
Wie du siehst, habe ich wieder angefangen zu lesen in deinem Blog. Ich lese gerne darin, ich fühle mit und mit dir, wenn ich "dich" lese. Du schreibst eben nicht technisch, sondern einfach wie du etwas siehst, fühlst, verstehst - und das verstehe ich auch (mit). Mach weiter so!!!
Liebe Grüsse
Jeannette
PS: Will nun noch etwas in meinem Rom Reiseführer lesen. Wir fliegen am 18. für 5 Tage. Dem Papst geht es unterdessen wieder besser und er konnte aus dem Spital entlassen werden und wurde im Papamobil heimgefahren - zur Schau, dass es ihm wieder gut geht. Dabei wünschen ihm doch alle, resp. die, die's überhaupt noch irgendwie interessiert, dass er endlich für immer Abschied nehmen könnte, wenn er es schon nicht freiwillig tut. Nun, wir haben einen "Exit-Plan", falls er sich vor dem 18. verabschieden sollte: wir landen in Rom und nehmen den ersten Zug raus von Rom.
CIAO BELLA (e Bello)!!!
 
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Judith Arlt in Japan. -- Es hat mich in ein Land verschlagen, das sauberer ist als die Schweiz. -- Zu einer Jahreszeit, die ich lieber bei den wildlebenden Kaiserpinguinen auf dem Meereis in der Weddel See verbringen würde. -- Als begleitendes Familienmitglied eines Research Fellows der Japan Society for the Promotion of Science. -- Judith Arlt in Tsukuba Science City, Präfektur Ibaraki.

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