Kasuga 3
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Neun Uhr abends. Wir packen. Sortieren unsere Sachen nach Hawaii und Nicht-Hawaii. Ein Koffer bleibt in Tokyo. Sortieren unseren Müll nach Brennbar und Nicht-Brennbar. Es schneit. Gestern der erste Frühlingswind, der in diesem Land seinen eigenen ordentlichen Namen hat: Haru ichiban no kase. Wörtlich und der Reihe nach: Frühling Nummer eins von Wind. Gestern Sand aus der saudischen Wüste. Und jetzt Schnee.
Heute Nachmittag mit Mela beim Tai Chi in Kasuga 3. Hier wird alles nummeriert. Die Winde. Die Strassen. Die Quartiere. Die Hausecken. Früher wurden sogar die Söhne mit Ordnungszahlen ins Geburtenregister eingetragen. Die Töchter blieben namen- und nummernlos.
Wir hatten uns mit den Fahrrädern an der Ecke Nishi Odori – Tsuchiura Gakuen Dori verabredet. Und fuhren nach Norden. Nach Norden. Nach Norden. Ließen Kasuga 1 rechts, Kasuga 2 links liegen. Bis wir kurz vor dem Hasunuma Fluss das Kasuga Kominkan erreichten. Das Gemeindezentrum. Eine Turnhalle. Ebenerdig. Die Sensei (Lehrerin) fragte mich als erstes, ob ich keine Schuhe dabei habe. In Strümpfen (ich trug selbst gestrickte Wollsocken) sei es zu kalt. Ich schüttelte den Kopf auf englisch. In Berlin versammeln wir uns in weißen Socken oder im Sommer mit weißen Füssen (außer Rhea, die hat braune). Hier tragen sie Schuhe. Spezielle Sportschuhe. Die sie in Taschen mitbringen. In die Halle, die man weder mit Straßenschuhen noch mit den Gemeindezentrumplastiklatschen betreten darf. Die Sportschuhe sind in einem Spezialgeschäft in Tsukuba erhältlich. Auf Bestellung. Gegen 22 Tausend Yen.
Es ist bunt. Die meisten tragen rosarote Seidenhosen und ein schwarzes oder grünes oder gelbes T-Shirt darüber. Es ist laut. Zu den Aufwärmübungen läuft chinesische Musik mit einem chinesischen Ansager. Und die alte Japanerin (Mutter der Sensei) sagt die Bewegungen japanisch an. Ich verstehe kein Wort. Alles ist mir zu schrill. Zu veräußerlicht. Halszentriert. Exakt. Es wird gezählt. Mit der Stimme. Schneidend. Und mit den Füssen. Stampfend. Der Gleichschritt. Und die Fäuste. Immer wieder geballte Fäuste. Aggressiv und militärisch. Ich sage zu Mela, hier könnte ich die Zahlen lernen. Mela erzählt, sie hätte hier „vorwärts“, „rückwärts“, „nach oben“, „nach unten“, „nach hinten“, „nach vorne“ gelernt. Es ist mir zu anstrengend. Die jungen Japanerinnen sind ehrgeizig. Ungeschminkt. Auch die älteren. Manche Übungen kommen mir vor wie chinesische Akrobatenkunststücke. Ich bin keine Schlangenfrau. Immer wieder wird der Raum, die Turnhalle, ebenerdig, mit verschiedenen Lila-Farbtönen an den Wänden, die längst blättern, wie Bäume im Herbst, nie wieder übermalt, seit das Haus steht, durchschritten. Von Nord nach Süd. Von Süd nach Nord. Die Hierarchien sind auch unter Frauen eindeutig. Die Sensei hat zwei Vorturnerinnen. Die geben den Takt an. Ichi, ni, san… Die Sensei pfeift sie zurück, wenn sie zu schnell zählen. Nicht, wenn sie zu laut zählen. Zu schnell gehen. Zu schnell denken. Ich verstehe kein Wort. Spüre nichts. Höre nur ein Gewirr von Stimmen und Tönen. Chinesische Musik. Japanisches Lachen. Weiße Zähne. Offene Gesichter. Es gibt einzuhaltende Trinkpausen. Zehn Schritte. Und wir haben die gegenüberliegende Wand erreicht. Mir rinnt der Schweiß von der Stirn und durch die Brüste.
Wir fahren die laute Nishi Odori wieder zurück. Der Wind ist eisig. Die Handschuhe sind im Koffer. Die Mützen in der Waschmaschine. Die Ohren steif. Nur der Kopf dampft und das Herz klopft. Wie unfassbar ist die Stille beim Tai Chi in Berlin. Unter dem Dach an der Akazienstrasse. Unter dem Himmel von Schöneberg. Wir trennen uns an der Ecke Tsuchiura Gakuen Dori. Mela biegt nach links ab. Nach Onozaki. Wo sie seit vier Jahren lebt. Der Vertrag ihres Mannes läuft im Mai aus. Ich fahre geradeaus weiter zum Ninomiya House. Ich bin glücklich. Ich habe nichts verpasst. Ich sehne mich zum ersten Mal nach Berlin.