Japan2005
Mittwoch, Februar 09, 2005
  Otaru .

Telegramm 8.2.2005: Heimkehr von Hokkaido um einen Ausflug nach Otaru verlängert (um insgesamt ca. 36 Minuten reiner Rückreisezeit). Der Professor wollte seine Frau noch ans Meer von Ochotsk führen, irrte sich aber. Wir schauten zum wiederholten Mal auf das Japanische Meer. Diesmal ungefähr auf der Höhe von Vladivostok. Oder Rom. Wo der Papst am genesen ist und wieder aus dem offenen Fenster winkt. Die Kälte, der Schnee – alles erträglich in einer Umgebung, die auf Winter eingestellt ist (z.B. Haken an den Wänden in den Restaurants für Mäntel und Jacken). Zum Mittagessen die besten Sushis des Lebens. In Otaru. Am Reiseinfuhrhafen. Auf Hokkaido werden Kartoffeln und Buchweizen angebaut. Kurze Degustation im Sakeladen. Den Unterschied von süßem und trockenem Sake auf der Zunge geschmeckt. Eine Dampfuhr gesehen. Und riesige Musikdosenverkaufssäle. Ansammlung von unbeschreiblichem Kitsch. Unerhörtem Kitsch. Die Infantilisierung der japanischen Gesellschaft reicht bis in die ehemaligen Reviere der Ainu. Schon das Schneefestival in Sapporo gab mir zu denken. 95 Prozent der Schnee- und Eisskulpturen sind Figuren aus Kinder- und Märchenwelten. Fernsehstars eingeschlossen. Wir wohnten mitten im größten Vergnügungsviertel nördlich von Tokyo. Ich nahm zur Kenntnis, dass hier weibliche Zuhälter weiblicher Prostituierter arbeiten. Ein Superlativ mehr für meine Sammlung. Nachtflug von Sapporo-Chitose nach Tokyo-Haneda. Mit einem bis auf den letzten Platz vollen Jumbojet über die Nordhälfte von Honshu gedonnert. Wunderbar. Kein Vergleich zu Shinkansenqualen. Obwohl null Sicht. Kein Lichtermeer, das die ganze Kantō-Ebene ausfüllt. Takebayashi Musōan schrieb bereits vor achtzig Jahren, Tokyo und Osaka seien im Vergleich zu den europäischen Städten nachts viel heller beleuchtet. Nebel. Wolken. Anflug von Osten. Von der Wasserseite. 388 Japaner an Bord. Zwei Langnasen. Neben uns saß ein Mönch. Und bewahrte uns bestimmt vor Schlimmerem. Anflug auf die blinkende Landebahn. Im Flugzeug wieder zu sehen. Unsere Ohren werden am Boden akustisch verschmutzt. In Otaru plärrte ein Radiosender durch alle Strassen. Das Geklingel der Musikdosen. Die Einschlafmelodien tausender Japaner. In Haneda blieb uns noch eine halbe Stunde Zeit. Der Nachhauseweg wird immer länger. Wir beobachteten von der absolut leeren Besucherterrasse aus die in die Nacht startenden stinkenden röhrenden Boeings. Mein Abschied vom japanischen Inlandflughafen. Dann mit dem Bus nach Tsukuba. Zu Fuß nach Hause. Die Luft war feucht wie noch nie. Hier. Es muss geregnet haben. Heftig geregnet. Dennoch reagieren die Bewegungsmelder im Zentrum dieser Betonwüste. Eine freundliche und viel zu hohe Frauenstimme preist die Umgebung. Oder was auch immer. Spricht Nachtgebete. Seit ich gelesen habe, dass japanische Männer sich Frauen aussuchen, die sie genauso verwöhnen, wie es ihre Mütter getan haben, verachte ich alle Männer in diesem Land. Ob verheiratet oder nicht. Die Verweichlichung - sichtbar bei weiblichen Menschen an rosafarbenen Täschchen, hunderten baumelnder Tierchen daran, Dutzenden von glöckchenklingender Assessoires am Handy – ist beim männlichen Teil der Gesellschaft nicht sichtbar. Die Verweichlichung und die Infantilisierung sind von ihnen, den Männern gemacht, gesteuert und gewollt. Wozu, dies mein letzter wirrer Gedanke vor dem Einschlafen, braucht es am Busterminal vor dem Flughafen pro Busdestination 3 Menschen, welche alle angekommenen Fluggäste umschwärmen, begleiten, geleiten, ihnen erklären, wie sie ihr Busticket aus dem Automaten bekommen, sie mit Megafon informieren, wann ihr Bus losfährt? Obwohl der Automat und mehrere übersichtliche Tafeln dies alles in japanisch vollumfänglich erklären? Warum, wenn doch 90 Prozent der Fluggäste männlichen Geschlechts sind? Man hat in diesem Land den Tages- und Nachtablauf elektronisiert, Maschinen aufgestellt, aber die Menschen daneben nicht abgeschafft. Die flugreisenden Männer brauchen menschliche Wärme. Fürsorge. Säuselnde sanfte Stimmen im Ohr. Männer fordern das Verbeugen. Egal von wem. Vom Plakat am Straßenrand. Vom Geldautomaten. Vom Fernsehsprecher. „Dies ist unsere Kopfarbeit“, hatte einer der Forstwissenschaftler in Sapporo beim Essen nach dem Vortrag des Professors erklärt. Halb im Scherz. Halb im Ernst. Ich falle in einen emaillosen Schlaf. Auch im Ninomiya House funktioniert das Internet nicht.
 
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Judith Arlt in Japan. -- Es hat mich in ein Land verschlagen, das sauberer ist als die Schweiz. -- Zu einer Jahreszeit, die ich lieber bei den wildlebenden Kaiserpinguinen auf dem Meereis in der Weddel See verbringen würde. -- Als begleitendes Familienmitglied eines Research Fellows der Japan Society for the Promotion of Science. -- Judith Arlt in Tsukuba Science City, Präfektur Ibaraki.

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