Seiden
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Nachtrag zu gestern. Der Berliner Experimentalphysiker lenkte mich mit seinen welthistorischen Wahrheiten von meinem eigentlichen Thema ab. Ich entwickle mich in diesem Land zu einer glühenden Männerhasserin. Von der übelsten Sorte. Tut mir leid.
Seiden – das Reisfeld. Die Erleuchtung im schönsten Garten Japans. Mein Göttergatte (der einzige Mann, den ich nach wie vor liebe) erkannte das chinesische Schriftzeichen auf der Erklärungstafel zum traditionellen Reisfeld im Koraku-En, im Garten der späteren Freude (siehe Foto in „Ikeda“ von gestern). Am letzten Januartag. Das Zeichen entspricht in diesem Fall ausnahmsweise geradezu 1:1 der Sache, die es meint (das Foto der Tafel in groß auf www.juditharlt.de, Japan-Fotos 3): es stellt ein Quadrat dar, „das durch zwei rechtwinklig zueinander angeordnete Zentralachsen in vier gleichgroße Quadrate eingeteilt wird“ (der Sinologe im Wortlaut). Eigentlich ist im Chinesischen damit ein „Brunnenfeld“ gemeint. Das heißt, in der Mitte des Zeichens wie der Sache, dort wo die Zentralachsen aufeinander treffen, sprudelt im Geist der Vorstellung Wasser aus dem Boden. Und die Zentralachsen sind gedachte Bewässerungskanäle für das Reisfeld. Mein angeheirateter Sinologe und Privatkoch hat zum ersten Mal ein chinesisches Schriftzeichen in natura gesehen. Und hat gleichzeitig zum wiederholten Mal bestätigt bekommen, dass die Japaner ihre Kanji-Schriftzeichen selber längst nicht mehr verstehen. Wie auf der Nahaufnahme der Erklärungstafel gut zu erkennen ist, sind die beiden untereinander stehenden Kanji am rechten Rand (das erste ist eine Verstärkung und Verdeutlichung des zweiten – beide zusammen bedeuten hier einfach „Reisfeld“) mit Hiragana-Silbenzeichen „erklärt“, verschriftlicht, in Laute umgesetzt, verlautbart. Den zwei Kanji entsprechen in der japanischen Lautlesart vier Hiragana-Silben. Von oben nach unten: Sa – i – de – n. Das „n“ ist der einzige Konsonant, der ohne Vokal im Japanischen existieren darf. Soviel habe ich in der Volkhochschule Berlin bei Aiga-san gelernt. Aber leider in der Zwischenzeit wieder vergessen.
Seiden – das japanische Reisfeld. Der Sinologe erkennt alle Namen seiner Gesprächspartner auf den Visitenkarten. Kann sie erklären. In ihren ursprünglichen Bedeutungen. In ihren tieferen Schichten. Was immer wieder große Verblüffung hervorruft. Ein paar Momente Schweigen. Stocken. Nachdenken. Ach ja. Stimmt! Auch die japanischen Städtenamen versteht der Sinologe. Aber er weiß nicht, wie sie in diesem Land ausgesprochen werden. Wie er am Shinkansenschalter am Bahnhof eine Fahrkarte dorthin kaufen soll. Tokyo = östliche Hauptstadt. Kyoto (umgekehrtes Tokyo) = hauptstädtische Hauptstadt. Hiroshima = Weite Insel. Hitachi = Sonnenplattform. Nur sein eigener Name – und so auch meiner, besäße ich eine Visitenkarte in japanischer Sprache – wird in Katakana geschrieben. Was ihn, als er seine Visitenkarten von Aoki-san überreicht bekam, im ersten Moment doch schmerzlich berührte. In China besitzt er nicht nur eine chinesische Visitenkarte, sondern auch einen chinesischen Namen, Wang (= König). Den hat ihm vor Jahren sein chinesischer Lehrer verliehen (zum Verhältnis Lehrer – Schüler siehe „Die Lehren des Buddha“). In japanischer Schreibweise wird sein Name mit vier Katakana-Silbenzeichen zu A-A-Ru-To verunstaltet. Eine Verfälschung. Eine Ausgrenzung. Eine Abweisung. Eine Diskriminierung. Eine Markierung. Der Stempel: Du bist fremd! Dein Name wird in Katakana geschrieben. Tsukuba ist die einzige Stadt, das einzige Dorf, der einzige Fleck in Japan, deren/dessen Name mit Katakana-Zeichen geschrieben wird. Für Tsukuba gibt es keine Kanji. Sondern drei Katakana. Tsu-Ku-Ba. Die Neustadt. Das Ausländerrevier. Nichtjapan.
Seiden. Brunnenfeld. Geometrisch angelegtes Bewässerungssystem. Der Kaiser von China ist ein Drachensohn. In China leben die Drachen in den Wolken und kontrollieren den Regen. Haben nichts mit Feuer und Zerstörung zu tun wie in Europa. Regen ist das allerbeste, was man sich in China denken kann. Denn ohne Wasser vom Himmel kein Reis. Kein Leben. Für Kaiser und Untertanen. Der chinesische Kaiser war also, solang es ihn gab, Herr des Wassers. Der Kaiser von Japan ist der Sohn der Sonne. Bis zum Abwurf der Atombombe wurde er als Shintogott verehrt. Japan wollte nur unter der Bedingung kapitulieren, dass die Gotthaftigkeit des Kaisers unangetastet bleibt. Dann fielen zwei Atombomben auf das Land. Eine dritte hätte den Kaiserpalast treffen können. Also teilte der Kaiser dem Volk am 15.8.1945 die Kapitulation des Landes durch das Radio mit. Die Japaner hörten zum ersten Mal die Stimme ihres Kaisers. Angeblich sprach sie in einem Hofjapanisch, das kein Mensch verstand.