Japan2005
Freitag, Februar 04, 2005
  Setsubun .

Nach Plan fängt heute in Japan der Frühling an. Die letzten zwei Tage fiel in Niigata so viel Schnee, berichtet Tsuji-san, wie seit 1926 nicht mehr. Nächste Woche fängt in Sapporo das Schneefestival an. Gestern waren alle aufgefordert, sich an den Shintoschreinen zu versammeln und Bohnen zu werfen. Setsubun – das Bohnenschmeißfestival. Am letzten Wintertag. Wird mit Bohnen der Teufel vertrieben. Und mit Bohnen dem Glück Tür und Tor geöffnet. Alle müssen das tun, damit es eintritt. Das Glück. Ins Haus. Mit dem Goldesel an der Leine. Sagte Aoki-san meinem Mann. Und der überbrachte mir die Botschaft am Abend. Mir blieb der Mund offen.
„Ich nicht“, wehrte ich ab, „und Du nicht!“
„Wir sind keine Japaner“, beruhigte mich der Allesbesserwisser. „Nur Japaner können Shintoisten sein.“
Das wirkte auf mich so, als ob der Papst auf dem Totenbett seinen letzten Erlass bekannt gegeben hätte. Dass ab sofort nur noch Polen Katholiken sein dürfen. Und nach getanem Tagewerk endlich in die Ewigkeit abgetreten wäre.

Heute fängt der Frühling an. Ich bin den zweiten Tag ganz allein und ganz stumm. Der Professor zog von dannen kurz vor sieben. Er fuhr nach Tokai, wo er die französische Véronique traf, die ihn als Übersetzerin zu einem ganztätigen Arbeitstreffen einer Arbeitsgruppe zur Förderung des Tourismus in der Ibaraki-Präfektur begleitete. Was auch immer. Ich sei herzlich eingeladen, mitzukommen, richtete er mir gestern abend auch von Aoki-san aus. Ich lehnte bestimmt und unhöflich ab. Ließ glücklich bei Sonnenaufgang die Waschmaschine laufen. Beeilte mich wie jede ordentliche Hausfrau. Denn wie angekündigt kamen am Vormittag ein Feuerpolizist (zählte die Feuermelder) und ein Insektenkontrolleur (spritzte eine nicht näher benannte Flüssigkeit hinter den Kühlschrank und entlang der Bodenleisten in Küche, Toilette, Bad und Eingangsbereich – dort wo die Schuhe stehen bleiben müssen). Das kann weder mit Frühlingsanfang noch Teufelsaustreibung zu tun haben. Denn laut „Fire Service Law“ findet es zweimal jährlich statt. Jeweils im Februar und im September. Der Tonfall auf der Ankündigung war aber, wie in diesem Hause üblich, harsch genug: „The Inspector will enter your room with or without your attendence … we can not accept any change of schedule on the inspection day”.

Heute fängt der Frühling in Japan an. Und alles verläuft nach Plan der Feuerschutzmassnahmen. Nach der Mittagspause der Inspektoren dröhnt eine Frauenstimme durch die Hausalarmanlage. In japanisch, englisch und chinesisch. Wie immer um ein paar Dezibel zu laut. So dass sie unerträglich wird. Auf die Nerven geht. Und sich im offenen Innenhof überschlägt. In wenigen Minuten würde ein Probefeueralarm ausgelöst und man dürfe auf keinen Fall in Panik geraten. Dies sei bloß ein Alarm zur Überprüfung der Anlage. Wiederholt sie dreimal. In allen Sprachen. Und immer lauter. Ich fliehe auf mein Fahrrad und fahre zu Kasumi. Der Mann ist nicht zu Hause, ich brauche etwas zu essen. Kochen tu ich nicht. Die Kassiererin gibt mir zwei abgepackte Holzeinwegstäbchen mit. Da ich Sushi und gekochte Nudeln mit Gemüse im Korb habe. Wenn wir Joghurt kaufen, bekommen wir Plastiklöffelchen. Durchsichtige. Winzige. Wie früher in der Schweiz zum Bechereis. Wir besitzen bereits eine ganze Schublade voll von einzelverpackten Einwegesswerkzeugen. Würden wir sie an der Kasse jeweils nicht freiwillig und dankbar entgegennehmen, könnten wie die Kassiererin beleidigen.

Der Frühling fängt an. Der Plan ist erfüllt. Wie das Gesetz des Feuers. Nur mir ist der Wind heute in Tsukuba zu scharf. Die Wäsche hingegen frohlockt. Das Wort „schedule“ gehört zu den wichtigsten in diesem Land. Höchste Priorität hat, seit wir hier sind, der von Aoki-san vor einem halben Jahr für uns festgelegte Plan. Ich durchstöberte heute des Professors emails (ich bin schließlich seine Frau, und er vergnügt sich Stunden von mir entfernt in Tokai, nördlich von Mito. Rhea braucht die Telefonnummer unseres Hotels auf Maui, bevor sie nach Kalifornien fliegt) und fand zu meinem Entsetzen mehrere (ein halbes Dutzend bestimmt) mails von Aoki-san mit dem Betreff „your schedule after feb. 27“. Nach dem 27. Februar werden wir nicht mehr in Japan sein. Und Aoki-san regelt immer noch unser Leben. Wir sind keine Shintoisten. Dürfen uns nicht am Frühlingsbohnenwerfen beteiligen. Gehören nicht zum Kollektiv der für das Glück in diesem Land Verantwortlichen.

Der Frühling ist da. Irgendwann in den nächsten Tagen werden sich meine Gedanken vielleicht von selbst wieder einfinden. Ich bin gereizt. Nach wie vor. Der Wind auf dem Fahrrad war unerträglich. Obwohl die Sonne schien. Die Stimme aus der Hausalarmanlage war unerträglich. Obwohl sie Panik verbot. Sogar auf dem Tsurumi dröhnte Musik. Durch das dichte Schneetreiben. Und in der Seilbahn quasselte ein schmächtiges Mädchen. In ein Mikrophon. Ohne Unterlass. Hoch. Und wieder runter. Ich habe keine Ahnung, was sie uns erzählte. Nur als die Gegenbahn uns kreuzte, gab sie auch uns vier Langnasen mit Handzeichen zu verstehen, uns zu erheben und zu winken. Ansonsten hörte ich nur, wie sie erzählte. Mit einer piepsenden Kinderstimme. Zerhackte sie die Silben. Wie eine altmodische verklemmte Reiseschreibmaschine. Am liebsten hätte ich ihr einen Tritt in den Hintern versetzt. Und sie angebrüllt. Ob sie denn nicht normal reden gelernt habe. So wie ich allen Frauen einen Tritt in den Hintern versetzen möchte. Und sie anbrüllen. Ob sie denn nicht normal laufen gelernt haben. Und alle Zahnärzte im Land ohrfeigen könnte. Und anbrüllen. Ob sie denn Schulmädchen nicht Zähne richten können. Es ist unglaublich, was hier an krummen Beinen und übereinander getürmten Zähnen herumläuft. Heute las ich in der nicht mehr ganz so kalten Bibliothek (der erste Frühlingstag!), dass Frauen sich zuweilen ganz normal unterhalten können, unter sich oder mit Ausländern. Sobald aber ein japanischer Mann hinzutritt, schlägt die Stimme automatisch eine Oktave höher an.

Frühling. Die Beine und Zähne der jungen Frauen entsprechen den Städten und Landschaften. Den herzlos bebauten Küstenstreifen. Hiroshima, sagt man, sei hässlich. Weil am 6. August 1945 alles verbrannte. Deshalb sind heute dort die Häuser neu, hoch und hässlich. Das ganze Land ist ein einziges Hiroshima. Wo die Holzhäuser nicht vom Uran gefressen wurden, trugen sie irgendwann fleißige Hände freiwillig ab. Und Maschinen türmten Beton auf. Unordentlich wie die Zähne in den Mündern der Mädchen. Durch die superschnellen Eisenbahnverbindungen wurden die zugebauten Wiesen und Wälder zusätzlich verschandelt. Die Shinkansentrassen ziehen sich – wie das Wort besagt: shinkan = neu + sen = Linie – auf groben Betonstelzen (kreuzungsfrei und kindersicher) erbarmungslos über die Inseln. Das ganze Land ist ein einziges vernachlässigtes Schulmädchengesicht.

Es ist Frühling geworden und ich kann gut leben, ohne den Goldenen Pavillon und ohne den Ryoanji-Tempel gesehen zu haben.

 
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Judith Arlt in Japan. -- Es hat mich in ein Land verschlagen, das sauberer ist als die Schweiz. -- Zu einer Jahreszeit, die ich lieber bei den wildlebenden Kaiserpinguinen auf dem Meereis in der Weddel See verbringen würde. -- Als begleitendes Familienmitglied eines Research Fellows der Japan Society for the Promotion of Science. -- Judith Arlt in Tsukuba Science City, Präfektur Ibaraki.

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