Japan2005
Montag, Februar 14, 2005
  Shall we dance? .

Valentinstag. Rhea fliegt nach LA. Der erste Schritt zu unserem Wiedersehen. Ich übe mich in positivem Denken. Der Professor ruft am Nachmittag an, dass im Economist ein Artikel über das bloggen sei. Er konnte auf seine Lieblingszeitschrift nicht verzichten. Lässt sie sich nachschicken. Zog sie heute früh auf dem Weg ins Institut aus unserem normalerweise leeren Briefkasten.

Ich setze mich in die Bibliothek. Der Economist liegt dort auf. Und entnehme dem altmodisch auf Papier gedruckten Text, dass ich eine „blogger-ie“ bin, d.h. jemand, der bzw. die ein „online journal“ führt, genannt „web log“ oder eben, vereinfacht, verkürzt „blog“. Und dieser blog soll, lese ich, spontan sein, emotional und nicht immer politisch korrekt. Na bitte.

Kaum postete ich in die „blogosphere“, dass ich alle Zahnärzte Japans ohrfeigen könnte … saß am Schalter am Busbahnhof ein blutjunges Mädchen mit einer Zahnspange. Lächelte uns an und schüttelte den Kopf. Weil es das nicht gab, was wir wollten. Seither sehe ich überall nur noch Zahnspangenmünder. Kaum posaunte ich in die virtuelle Welt hinaus, dass Ausländer in Japan stolz darauf sind, die Landessprache nicht zu beherrschen, spricht der Bielefelder fließend Japanisch. In der Nacht. Kaum hielt ich eine Fremdmeinung fest, dass uns Westlern hier der Zugang zur östlichen geistigen Welt versperrt bleibe, erkenne ich rundum Doppelleben. Verschwiegenheiten. Geheimnisse. Räume hinter Räumen. Spiegel in Spiegeln.

Wichtig ist, was nicht gesagt wird. Erklärte die Übersetzerin Véronique in Mito und redete schamlos in die Mittagspause hinein. Ich erinnere mich an den äußerst melancholischen japanischen Film „Shall we dance?“. Kürzlich in Otaru sah ich vom Sightseeingbus aus diese drei Wörter auf einer Fensterscheibe im zweiten Stock kleben. In irgendeiner Strasse. Unscheinbar. Weiß wie der Pulverschnee von Hokkaido. An irgendeinem Gebäude. Was mir von dem Film im Kopf geblieben ist (viel Trauriges, Stummes, ein unendlich ästhetisches Gefühl) hat überhaupt nichts mit dem Japan vor meinem Fenster zu tun. Mit dem Winterreisfeld. Dem gefrorenen Boden. Und der unverdrossenen Valentinstagsonne. Ich habe hier noch kein einziges Gefühl erfahren. Auf der Strasse. Im Shinkansen. Auf den Inlandlfughäfen. Im Jumbojet. Die Stewardess sah aus wie aus einem kolorierten ukiyo-e (japanischer Holzschnitt) herausgefallen. Ich glaubte ihr keine Sekunde ihr dienendes Tun. Wir saßen am Notausgang und hatten viel Beinfreiheit. Während der Start- und Landephase nahm sie uns gegenüber Platz. Sie sprach fast die ganze Zeit in den Telefonhörer an ihrem Sitz. Sie sagte mindestens hundertzwanzigmal „hai!“ und nickte dabei. Lächelte. Ein eiskaltes Gesicht. Schön. Abweisend. Eiskalte lange Beine. Elegant aneinander gelegt. Eiskalte Fingernägel. Die restliche Zeit des Fluges waren sie und ihre Kolleginnen in Schürzchen damit beschäftigt, den Müll der Fluggäste einzusammeln und schwarze Müllsäcke zuzubinden. Ich verstand überhaupt nicht, wie so viel Müll zusammenkommen kann auf einem Flug, bei dem nichts zu essen serviert wird, kein Alkohol, jeder nur einen Pappbecher vor die Nase bekommt mit einem wahlweise heißen oder kalten Getränk.

Shall we dance. Heute bekommen in Japan die Männer von den Frauen Schokolade. Ich habe stattdessen neben den üblichen drei Hemden noch eine Hose gebügelt. Morgen fahren wir überraschend nach Tokyo. 
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Judith Arlt in Japan. -- Es hat mich in ein Land verschlagen, das sauberer ist als die Schweiz. -- Zu einer Jahreszeit, die ich lieber bei den wildlebenden Kaiserpinguinen auf dem Meereis in der Weddel See verbringen würde. -- Als begleitendes Familienmitglied eines Research Fellows der Japan Society for the Promotion of Science. -- Judith Arlt in Tsukuba Science City, Präfektur Ibaraki.

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