Japan2005
Sonntag, Februar 13, 2005
  Sonntags geöffnet .

Der neue Mond liegt schmal am Himmel. Der Professor findet heute in seinen Unterlagen die interkulturelle Erklärung für meine zunehmenden Männergehässigkeiten in diesem Land.

Kürzlich etwa, mitten in der Nacht, sprang der Bielefelder DAF-Mensch im letzten Moment auf den Bus in Haneda auf. Wie eine Kafkakarikatur. Zu groß gewachsen und nervös wie alle Europäer, die längere Zeit in diesem Land leben. Kopflos wie kein Japaner. Ruhelos wie die deutsche Professorin auf Miyajima. Sie klimperte während des ganzen erlesenen Abendessens mit den Fingern der rechten Hand an ihrem mit dem üblichen Schulmädchenkitsch behängten Handy herum. Geschlagene zwei Stunden lang. Beherrschte ich mich. Schlürfte Austern. Delektierte Sashimi. Pickte Tsukemono und salzigsaure Umeboshi. Wartete auf Reis und aß Fisch. Der DAF-Mann bombardierte uns, was kein Japaner je täte, mitten in der Nacht mit einem japanischen Satz. Wiederholte ihn stur mehrmals wörtlich. Auswendig gelernt. Verzog sich dann in die hinterste Reihe. Und warf uns denselben Satz beim Aussteigen in Tsukuba nochmals dreimal an den Kopf. Zum Glück hatte er etwas im Bus vergessen, so dass wir ihn los waren.

Grażyna erkundigte sich vor Wochen aus Warschau nach dem geistigen Leben in Japan. Sie hat bis heute keine Antwort erhalten. Ich sehe nichts und spüre nichts. Die Geologin in Beppu meinte, uns bliebe der Zugang versperrt. Zu jeder anderen Welt. Als der sichtbaren der Straße. Des Tokyoter erdbebengesicherten Untergrunds. Der kreuzungsfreien Shinkansentrassen. Das glaube ich nicht. So schnell wie in Japan habe ich noch nirgends Menschen riesige Portionen von Reis und Nudeln aufessen gesehen. So schnell wie in Japan habe ich noch nirgends Gläubige ihr Gebet verrichten gesehen. An jeder Straßenecke in Peking, in jedem verrunzelten Gemüsefrauengesicht erlebe ich mehr Geistigkeit als in diesem zubetonierten Land des Lächelns. Verborgen bleibt mir vieles. Mit Augen und Verstand verstehe ich so wenig wie in kaum einem anderen Land. Unsere Wangen sind immer noch warm vom gestrigen Ausflug. In der Luft liegt immer eine unendliche Gleichgültigkeit. Selten freut sich jemand, dass wir da sind. Trotz der lautstarken Dankes-, Willkommens- und Abschiedsbeteuerungen allerorten.

Japan. Die Europäer in diesem Land sind nervös und hyperaktiv. Die Japaner in diesem Land sind apathisch und schlafwandlerisch.

Der Professor zitiert mir einen Gewährsmann. Dass Japan Deutschland, der Schweiz, ja sogar den USA kulturell näher stehe als beispielsweise China. Außer (erhobener Zeigefinger) bei der Maskulinität. Bei der Rolleneinweisung von Frau und Mann. Bei der Behauptung der Unausweichlichkeit des Daseins auf der Grundlage dessen, ob ein Mensch als Mann oder Frau geboren wird. Japan gehört, zitiert der Professor in seiner Sonntagsansprache den Kollegen, zu den Ländern auf der Welt, in denen diese Idee der Rollenfixierung nach Geschlechtszugehörigkeit noch am ausgeprägtesten ist. Dies tröstet mich wenig. Mein Hauskoch versichert mir, dass es voraussehbar war, dass ich auf die Maskulinität so gereizt reagieren würde. Ich würdige ihn keines Blickes mehr. Er lädt mich zum Essen ins Sakura-ann ein. Er hat keine Lust, am Sonntag zu kochen. Ich kann und will nicht kochen. Wir essen Tempura-udon. Anschließend kaufen wir bei Kasumi zwei Kiwis und eine Zitrone (Halsbrennen seit gestern) und vier große Becher weißen Joghurt, haltbar bis zum 27. Februar. Unter dem gewölbten Plastikdeckel liegen, das wissen wir mittlerweile, 15 Gramm gestiefelter Zucker, abgepackt und beschriftet. Wir nehmen am Ausgang drei leere Kartons mit. Wir müssen Papiere, Bücher, Prospekte, alles Leserliche und Unleserliche, Verständliche und Unverständliche nächste Woche wegschicken. 
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Judith Arlt in Japan. -- Es hat mich in ein Land verschlagen, das sauberer ist als die Schweiz. -- Zu einer Jahreszeit, die ich lieber bei den wildlebenden Kaiserpinguinen auf dem Meereis in der Weddel See verbringen würde. -- Als begleitendes Familienmitglied eines Research Fellows der Japan Society for the Promotion of Science. -- Judith Arlt in Tsukuba Science City, Präfektur Ibaraki.

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