Splitter 2
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Es fängt bei der Sprache an. Weil ich ein Schriftmensch bin. Und hört bei den Kulturgütern auf. Weil ich ein Güterzugrangierbahnhof bin.
Rolf (aus Berlin, nicht der aus der Schweiz) wollte kürzlich wissen, ob es in Japan auch „Stätten des Welterbes“ gäbe, oder ab „alles schon im Maelstrom versumpft“ sei. Seine Frage trifft meine wunde Seele. Deshalb zögere ich. Während draußen Hopper mit dem Vollmond um die Wette irrlichtert. Es ist klar, wer gewinnt. Der Tag war warm wie nie zuvor. Die Luft körnig wie über der saudischen Wüste. Die ANA-Maschine aus Peking kämpft mit Gegenwind und jagt der verlorenen Zeit nach. Rhea ist auf Maui eingetroffen. Bei ihr ist jetzt gerade noch gestern. Der japanische Kronprinz Naruhito feiert heute seinen 45. Geburtstag.
Kulturgüter gibt es en masse. Güterzugsweise karren sie in meinem Kopf über die Insel. Irgendwann heben sie im Gepäckraum einer Boeing vom Boden ab. Was nicht Welterbe ist, bleibt Nationalerbe. Das ist überall so. Aber hier gibt es Dinge wie „Quasi-Nationalparks“. Das hört sich nach einem Übersetzungsversehen an, an denen dieses Land und seine Speisekarten so reich sind. Denkt die Hausfrau. Doch weit gefehlt. Der Professor ließ sich aufklären. Die Unterscheidung „Nationalpark“ - „Quasi-Nationalpark“ liegt in deren Finanzhaushalt begründet. Der eine wird von der Zentralregierung als definiert und finanziert. Der andere wird nur von oben bestimmt, die Finanzierung verbleibt unten. Bei der Präfektur. Der Stadt. Dem Dorf. Die Hierarchie sitzt überall fest. Macht ohnmächtig wie ein zu eng geschnürtes Korsett. Was auf unserem geistigen Bildschirm als abgewertet blinkt, erfährt in der japanischen Seele volle Aufwertung. Prangt stolz auf Landkarten und Yokoso-Prospekten.
Der Mond hat den Himmel und die ganze Stadt eingenommen. Seinen Schwellpunkt erreicht er in Tsukuba morgen früh um 5 Uhr. Danach wird bald wieder die Sonne aufgehen. Welterbestätten habe ich viele gesehen. Weltkulturerbe. Oder Welterbe. Naturerbe. Oder Weltnaturerbe. Naturkulturwelterbe. Weltnaturkulturerbe. Weiß der Teufel. Hiroshima beispielsweise ist Weltkulturerbe. Nicht die Stadt, sondern das Friedensdenkmal, „Hiroshima Peace Memorial (Genbaku Dome)“. Das, was die Atombombe hat stehen lassen. Das Gerippe eines Mammontempels. Die Wut kocht wieder in mir hoch, wenn ich in der Kurzbegründung der Unesco lese (siehe http://whc.unesco.org/sites/775.htm): “Not only is it a stark and powerful symbol of the most destructive force ever created by humankind; it also expresses the hope for world peace and the ultimate elimination of all nuclear weapons.” Nicht Frieden triumphiert. Weder in Hiroshima. Noch auf der Welt. Noch in der Kultur. Sondern die A-Bombe. Die Abkürzung, welche sowohl die Unesco wie die Stadtväter gerne benützen, verharmlost das Ungeheuer Atombombe. Und die Aufnahme in die Weltkulturerbeliste verleiht ihr ihre zweite Rechtfertigung. James H. Foard schreibt in seinem Artikl „Text, Place and Memory in Hiroshima“, den mir der Professor freundlicherweise in Kopie überlassen hat: „… the story must be told, not only to designate the place, but also, so that the bomb does not triumph. Hence the place of Hiroshima must at once retain and reject, give and prevent access to its story. The bomb cannot be memorialized, what are memorialized in the Park are the bomb’s opposites: its victimes, through many specific stones, and peace, with the peace bell and flame.“ Was für eine bequeme amerikanische (Arizona!) Argumentation! Die Bombe darf nicht triumphieren, man darf ihr kein Denkmal setzen, also triumphiert der (körperlose, durchsichtige) Frieden und dient gleichzeitig als (ebenso körperloses, durchsichtiges, engelsgleiches, entmaterialisiertes) Denkmal für ihre Opfer. Die Friedensglocke. Die Friedensflamme. Wie erhebend. Und rührselig. Das Ding, das sich am höchsten in die Luft aufschwingt im Friedenspark ist die weiße japanische Fahne mit dem knallroten Punkt in der Mitte. Und das Museum betet allen technokratischen Mist zu dieser A-Bombe so naturgetreu und rosenkranzhaft herunter, dass mir armer Frau der Kopf schwirrt, aber bald jeder Halbwüchsige nach Hause geht und sie pfeifend nachbaut.
Es ist dunkel geworden. Der Professor ist in Narita gelandet. Ich muss mich beeilen. Vollmondnächte schärfen die Gedanken. Wie Samuraischwerter. Das Wort „peace“ – „Frieden“ wird in Hiroshima überfrachtet. Wie an keinem anderen Fleck der Welt. Es müsste ehrlicherweise „eliminiert“ werden. Und damit Herz gezeigt. Bis die Atomwaffen auf der Welt eliminiert sind. Die Fahrtrichtung unserer Güterzüge war schlecht gewählt. Das konnte aber keiner vorhersehen. Dass bereits die Abfolge der Ereignisse sich so niederschmetternd auswirken würde. Nach Huis ten Bosch (weder Welt- noch Naturerbe), und vor Hiroshima die Insel Miyajima. Mit Weltkulturerbe: Itsukushima Shinto-Schrein. Wir besichtigten ihn, nachdem uns der fette Mönch durch den Daiganji-Tempel geführt und uns einen Blick in seinen privaten Zen-Garten erlaubt hatte, und ich war für kein Welterbe mehr empfänglich. Das bei Flut auf dem Wasser schwimmt wie ein Containerschiff. Es wurde im Herbst von einem Taifun beschädigt. Die Fotos von der Macht der Elemente waren beeindruckender als die neuen Holzstege, über welche man uns Sonntagsbesucher im Einbahnverkehr geleitete. Nach Hiroshima und vor Nara (ganz Nara ist ein einziges Weltkulturgut) die Himeji-Burg. Weltkulturerbe. Enttäuschend aus der Nähe. Und bitter auf der Haut. Das Wetter verschlechterte sich. Der Himmel zog sich zu. Der Wind wurde eisig. Von der Burg ist nur der Wehrturm übrig geblieben. Wir mussten unsere Schuhe auf dem Rundgang in einer Plastiktüte mittragen. Obwohl wir an der Stelle die Burg verließen, an der wir sie betreten hatten. Die erste Schikane im japanischen Museumwesen. Schuhe darf man immer stehen lassen. In diesem Land klaut keiner Schuhe. Auf losen Plastiklatschen und mit baumelnden Winterschuhen in der Hand hätte ich mehrmals die steilen Treppen hinunter stürzen und mir alle Knochen bis hin zum Genick brechen können. Nach Himeji und vor Kyoto (die halbe Stadt und die ganze Umgebung ein einziges riesiges Weltkulturgutstück) die Eiszeit in Nara. Kälte raubt den letzten Sinn für Unescoeinträge und Postkartenansichten. Als der Professor wohlwollend bemerkte „das ist nun wirklich alt“ (es war, glaub’ ich der Horyuji Tempel), platzte mir der Kragen. Ich bin eine Frau und kein Experimentalphysiker. Ich habe meine hormonell bedingten Stimmungsschwankungen. Überall auf der Welt. Auch in der egalisierten Gesellschaft Japans.
Alt oder nicht alt. Welterbe oder nicht Welterbe. Fake oder nicht fake. Holland oder Japan. Kyoto oder nicht Kyoto. A-Bombe oder B-Bombe. Man rangiert hier Geschichte und Traditionen wie Chemiegüter am Bahnhof Olten. Containerweise. In Schiffsbäuchen. Oder Huckepack. Kein Mensch weiß, mit wie vielen hochexplosiven Stoffen angereichert. In den japanischen Häusern (ich war gestern in einem) wird die ganze Tradition in das Tatamizimmer gesteckt. Das ist einfach zu handhaben. Schiebetür zu. Schiebetür auf. Hausaltar. Ohinasama (zum Mädchentag am 3.3.). Sonst was zum Jungentag (irgendwann später, ich habe das Datum absichtlich aus meinem Kopf verbannt, da er gleichzeitig ein Nationalfeiertag ist – was der Mädchentag nicht ist). Weihnachtsbaum. Hochzeitsfoto. In der japanischen Außenwelt wird die ganze Tradition in Tempelanlagen verwahrt. Abseits vom täglichen Umsteige-Trott. Unberührt von den Shinkansenstelzen. Nikko – auch Weltkulturerbe, auch abzuhaken auf meiner inneren „ichhabjadochwasgesehen“-Beruhigungsliste. Und der Zedernwald –Weltkulturguthauch, allerdings nicht der bei Nikko, den wir in der Abenddämmerung betrachtet, befahren, begangen, befühlt und berochen haben, sondern der auf Yakushima, einer kleinen Insel südlich von Kyushu. Oder andersherum – auch Himmelsrichtungen unterliegen Stimmungsschwankungen und sind relativ – das nördliche Ende des Ryukyu-Archipels.
Die Tempel auf der Erdoberfläche sind wie die Kanji-Zeichen in der Sprache. Den Japanern selbst fremd und unverständlich geworden. Aber ich kann nicht einmal die Untertitel in Hiragana lesen. In Nara hing ein handgeschriebener Zettel an einem Holzpfosten. “I’m sorry, my english is not good to explain buddhist temple.” Ohne Unterschrift. Der einzige herzliche Satz im ganzen Land.