Splitter
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Vormittag.
Trotz Wollsocken konnte ich nicht einschlafen. Mir ging durch den Kopf, dass wahrscheinlich nur ich die Welt hier in einzelne Bestandteile aufgesplittert wahrnehme. Dass sie für die Menschen, die hier geboren wurden, normal ist. Ihnen im Gegenteil sogar das Gefühl gibt, Teil einer ungespaltenen Ganzheit zu sein. Und etwas Ganzes, Einheitliches, Normales schafft immer Geborgenheit. Nicht nur auf einer Insel. Die Menschen hier leben in einer rundum harmonischen Welt. Umspült von den Wassern der Erde. Nur Reisende und Heimatlose sehen Brüche. Risse. Klaffen. Hören das Rumoren der Tiefe. Empfinden mangelnde Wärme als Kälte. Verstehen nicht, warum der letzte Bus von Ushiku bereits um 20:10 Uhr losfährt.
Es fängt bei der Sprache an. Weil ich ein Schriftmensch bin. Weil ich die Wörter besser behalten kann, wenn ich sie sehe. Als wenn ich sie höre. Weil sie mich weniger anstrengen. Wenn ich sie sehe. Als wenn ich sie höre. Die japanische Sprache zerfällt in drei graphische Bestandteile. Für mich. Weil ich sie – die Sprache – so sehe. Und weil ich erkenne, wie wenig die Zeichen miteinander zu tun haben. Auch wenn sie in einem einzigen Satz vereint, in einem einzigen Wort eingeschlossen auftreten. Und meinetwegen aus einer gemeinsamen Wurzel stammen mögen. Trotzdem sind sie sich heute fremd. Stehen sich feindlich gegenüber. Beargwöhnen sich.
Warum schnitten die japanischen Schüler bei den Aufnahmeprüfungen für die Universitäten in diesem Jahr bei der Sprachprüfung besonders schlecht ab? Weil sie keine Kanji mehr erkennen können. Weil sie die chinesischen Schriftzeichen nur noch in ihrer Kompliziertheit wahrnehmen. Nicht aber in ihrem eigentlichen Sinn. Mich stören nicht die komplizierten Strichfolgen und Strichgebirge. Mich stört, dass auch der einfachste Satz im Japanischen keine Ruhe in einem einheitlichen Schriftbild findet.
Letzten Sommer in Berlin erfuhr ich von Aiga-san, dass ein normaler Satz wie „Ich fahre nach Paris“ im Japanischen geschrieben aus allen drei graphischen Varianten besteht. Und dies zwingend. Es gibt keine Freiheit. Nur das Fernsehen und die Museen kennen phonetische Untertitel für Kanji-Zeichen und dürfen sie anwenden. Es gibt keine Kreativität. Keine Sprachspielereien. Die Schrift ist unbeweglich. Das Subjektzeichen (Ich) verlangt ein Kanji-Zeichen, das Verb und die grammatische Korrelation (fahren nach) will – in diesem Fall – fünf Hiragana-Silben und die Endstation „Paris“ wird als Fremdwort bestraft mit Katakana-Silben.
Ich muss los. Mela wartet im Bus nach Hitashi-no-Ushiku.
Abend.
Mit dem letzten Bus zurückgekommen. Bin müde. Wir haben den ganzen Nachmittag englisch gesprochen. Und Fotoalben durchblättert. Wie glücklich manche Menschen auf der Reise und nicht in der Heimat aussehen. Die Unruhe in der Verschriftlichung setzt mir zu. Und ihre gleichzeitige Leichenstarre. Es gibt keine Möglichkeit, daraus auszubrechen. Die Sprache zu erlernen. Mit Spaß und Freude. Die Schweiz als Gefängnis. Geht mir nicht mehr aus dem Kopf. Denn ich habe Grindelwald gesehen. Gletscher, Schnee und Fahnen. Japan als Gefängnis. Die Kanji-Welt als Gefängnis. Die Hiragana-Welt als Gefängnis. Die Katakana-Welt als Gefängnis. Gesprochen hört sich die Sprache so einheitlich und regelmäßig intoniert an wie Maschinengewehrgeknatter.
Dürrenmatts Havel-Rede. Mein Gott, wie lange ist das her! (Gott antwortet sofort: Friedrich Dürrenmatt. Die Schweiz - ein Gefängnis. Rede auf Vaclav Havel zur Verleihung des Gottlieb-Duttweilers-Preises am 22. November 1990). Er muss kurz darauf gestorben sein (Gott ist zur Stelle: am 14.12.1990). „Jeder Gefangene beweist, indem er sein eigener Wärter ist, seine Freiheit.“
Die Silbenschriften wachen über die Menschen auf dieser Insel. Eifersüchtig hindern sie sie an geistigen Fehltritten.