Japan2005
Samstag, Februar 19, 2005
  Tēburu .

Fortan muss ich mich auf das Wesentliche konzentrieren. Alle Ablenkungsmöglichkeiten sind heute auf dem Postamt gelandet. Ich brachte zum ersten Mal ein japanisches Wort mit Erfolg und Sichtkontakt über die Lippen. An den Mann. Und dem Professor gelang es zum ersten Mal mit Erfolg und fernmündlich, ein Taxi zu ordern. Ich sagte „yūbin-kyoku“, der Fahrer nickte und fuhr zufrieden los. Aiga-san hatte uns in Berlin gedrillt. Mit Zahlwörtern, Uhrzeiten und Mittagspausen. Fast hätte ich dem Tsukubaer Taximenschen auch noch gesagt, von wann bis wann yūbin-kyoku im Lehrbuch „Japanisch im Sauseschritt“ samstags geöffnet hat. Die Sätze, die uns Aiga-san sinnlos oft wiederholen ließ, sitzen im Kopf fest wie Baumstrünke. Knospenlos. Entgrünt.

Ein trüber Tag wie noch nie in Tsukuba. Es schüttet vom Himmel. Ohn’ Unterlass. Mario meldet aus Tokyo Schnee. Geblieben sind mir die kalte Bibliothek und eine schlecht kopierte Überlebensstrategie. Seit dem gestrigen Sashimi-Essen steckt ein Wort im Ohr fest. Die Kellnerin sagte etwas, ein Schwall von Japanisch ergoss sich wie immer, bevor sie uns platzierte. Ich verstand nichts. Erahnte nur im Tonfall die entweder-oder-Frage. Eiko antwortete „table“. Und so glaubte ich im Nachhinein in der Frage der Kellnerin das Wort „table“ als entweder-Option gehört zu haben. Reziprokes Sprech-Unverständnis. Wir wurden an einen Tisch mit Stühlen gesetzt. Assen mit baumelnden Füssen rohen Fisch und tranken Tee. In der Nacht trieb das Wort Blüten. Und heute früh fand ich es beim Schein der Neonröhre über meinem Schreibtisch in der schräg kopierten Notfallbroschüre wieder. Das einzige Schriftstück, das mir geblieben ist. Die einzigen Katakana-Silben, die ich im ununterbrochenen Zusammenschluss von unterschiedlichen Zeichen unter Punkt 1 erkennen kann. Der Tisch, unter den sich jedermann im Fall eines Erdbebens unverzüglich zu begeben und dessen Beine er festzuhalten hat, heißt tēburu. Ein Fremdwort. Oder ein Lehnwort. Stammt höchstwahrscheinlich aus dem Angelsächsischen. Ist die japanische Vorleseart von table. Es wird außerdem empfohlen, den Kopf unter dem Tisch mit einem Kissen zu schützen. Ich werde die letzten Nächte in Japan unter dem englischen Tisch verbringen und darüber nachdenken, ob es schon zur Edo-Zeit Erdbeben gab. Denn langbeinige Tische – tēburu – gab es damals bestimmt nicht.

Die deutsche Geologin in Beppu erzählte von ihren Ängsten in diesem Land. Sie fangen an bei der Flugangst und hören auf bei der Vulkanausbruchsangst. Da Vulkanausbrüchen meist Erdbeben vorausgehen, ist die Erdbebenangst umsonst miteingeschlossen. Sie könnte in diesem Land nicht in einem Wohnblock leben. Sagte sie und goss Kerosin nach. Der Ofen war ausgegangen. Ich könnte nicht in einem unbeheizbaren Haus leben. Sagte ich in dem bis zum Dachstuhl offenen Wohnzimmer, welches mich das Frieren lehrte. Das Haus roch wie die Aussichtsterrasse von Haneda. Ich liebe Vulkane. Ich liebe Flugzeuge. Auf dieser Insel liebe ich es ganz besonders, dass die Piloten auf den Inlandflügen ihre Sicht aus dem Cockpit in die Kabine weitergeben. Die einzige Art von japanischem Kollektiverlebnis, das mir nicht zuwider ist. Lieber sterbe ich unter zehn gemauerten Stockwerken. Als dass ich mit kalten Füßen lebe.

Im Economist, der Lieblingszeitschrift des Professors, im Artikel über das bloggen, wird als „radikales“ Beispiel für eine offene Kommunikation die Genesung des flugangstbefallenen Mr. Pryor („who is – really – Microsoft’s ‚director of platform evangelism’“) herangezogen. Ein Pilot hatte Pryor erlaubt, während des Fluges über Kopfhörer die Cockpitgespräche mitzuhören. Pryor war seine Angst auf einen Schlag los. Ich kenne das. Ich saß auf einem Flug von Basel nach Berlin im Cockpit. Und hörte auch mit. Jeder, der im Cockpit sitzt, bekommt einen Kopfhörer übergestülpt und hört unweigerlich. Alles. Mit. Mich sicherten weniger die „ehrlichen Worte realer Menschen“ (Pryor) ab als die Worte unsichtbarer Menschen vom Boden. Aus verschiedenen Flugsicherheitsbüros. Damals konnte man auf deren Mitarbeiter noch bauen. Wir hatten den Schweizer Luftraum längst verlassen. Ich starrte fasziniert in die Küchen türkischer Familien in Neukölln. Wir landeten in Tempelhof. Ich war der Schweiz entkommen. Die Worte vom Boden kamen wie feine Fäden nach oben. Wie Stricke, die nie reißen.

Ich muss mich auf das Wesentliche konzentrieren. Ich packte einen Koffer. Der Professor fliegt morgen nach Peking. Ich bleibe allein in Tsukuba zurück. Ich werde mit dem Kissen über dem Kopf unter dem Tisch schlafen. 
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Judith Arlt in Japan. -- Es hat mich in ein Land verschlagen, das sauberer ist als die Schweiz. -- Zu einer Jahreszeit, die ich lieber bei den wildlebenden Kaiserpinguinen auf dem Meereis in der Weddel See verbringen würde. -- Als begleitendes Familienmitglied eines Research Fellows der Japan Society for the Promotion of Science. -- Judith Arlt in Tsukuba Science City, Präfektur Ibaraki.

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