Wandertag
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Der letzte Samstagsausflug. In die Umgebung. Zu unserem Hausberg im Norden, dem Tsukuba-san. In einer Woche, am 19. Februar beginnt die offizielle Baumblüte. Dann schwillt die Kantō-Ebene an. Wie ein reißender Fluss überschwemmen Blütenschauer die Gegend. Umeblüten-Beschauer. Weiße und rosafarbene Sakurablüten-Bewunderer. Kaedeblüten-Bestauner. Yama-yuri-Blüten-Beschwichtiger. Katakuri-Blüten-Beschwörer. Begonia. Blüten. Nirinso. Anemonen. Blüten. Eizan-sumire. Veilchen. Blüten. Togoku-mitsuba-tsutsuji. Azalee. Blüten. Tsukuba-uguisu-kagura. Honigsauger. Blüten. Tsukubane. Sandelholz. Blüten. Hoshizaki-yukinoshita. Erdbeergeranien. Blüten. Sammler. Sucher. Seher.
Die Japaner gucken Bäume und Blumen nur an, wenn sie blühen. Den Rest des Jahres sehen sie andere Dinge.
Wir hingegen fühlen uns verpflichtet, zu jeder Zeit alles aufzunehmen. Das Hässliche und Schöne zusammen. Bis wir daran ersticken. Im Winter lieben wir nackte Gerippe. Verknospte Äste. Rindenhartes Holz. Menschenleere Tempel- und Parkanlagen. Beschallungsbefreite Wälder. Eiskalte Füße.
Mit dem einen Bus fuhren wir von Tsukuba-Center bis zur Endstation Tsukuba-Eki (= Tsukuba Bahnhof, wo aber seit Menschengedenken kein Zug mehr abfährt. Der stillgelegte Eisenbahnbahnhof wurde umfunktioniert zum Busbahnhof am Fuße des Berges). Mit dem zweiten Bus fuhren wir von Tsukuba-Eki zehn Minuten in die Höhe bis zur Endstation Tsukuba-Jinjya (= Ausgangspunkt für Blütenschauer, Tempel- und Schreinbesichtiger und Gipfelerstürmer). Nachdem wir pflichtbewusst unser Opfergebet am Tsukubasan-Schrein und am Omido-Tempel dargebracht hatten, setzten wir uns mutig in die Zahnradbahn zum männlichen Gipfel (Nantaisan, 871 Meter ü.M.). Assen im Drehrestaurant Berggemüsenudelsuppe. Eine Winterspezialität. Schmeckte hervorragend. Alle Himmelrichtungen vor Augen. Der Professor war begeistert. Das hätte er hier oben nicht erwartet. Wir machten uns zu Fuß auf zum weiblichen Gipfel (Nyotaisan, 877 Meter ü.M.), der entgegen aller Vorhersagen, Schönredereien und Möchtegerntuereien höher ist als der männliche. Das Gedrängel der Japaner auf den Gipfelfelsformationen rief die Bilder meines letzten Alptraums auf. Genau das hatte ich gesehen in der Nacht nach der Rückkehr von Nara. „Ameisenvolk“, war mein erster klarer Gedanke, nachdem ich dem Traum ein Ende gesetzt hatte. Wenn einer bergauf strebt, tun es ihm alle nach. Egal ob oben Platz ist oder nicht.
Die Kantō-Ebene lag ihn ihrer ganzen Größe und Weite unter uns. Das Reisfeld Japans in der Sonne. Am Horizont die Türme Tokyos. Der Dunst des Frühlings. Ein Streifen glitzernder Bucht. Fuji hielt sich bedeckt. Im Westen der schneebedeckte Asama-yama. Und nach Norden hin verblassend das Echigo-Gebirge. Das wir auf dem Weg nach Niigata mit dem Shinkansen durchschnitten hatten. Das Erhabene einer endlichen Ebene. Auf unserem Gipfel lag stellenweise noch Eis.
Wir stiegen ab zur Station der Seilbahn. Gondelten mit Mozart und einer Meute Japaner in das Tal. Wanderten mutterseelenallein durch den Wald zum Hakujya Benton. Die Asphaltplatten und schrittgerecht angeordneten Steinplatten schossen mir bald ins rechte Knie. Wir warteten mit einer Banane auf den Bus bis Eki. Und teilten die letzte Schokolade aus Deutschland bis Center. Stiegen auf die Fahrräder. Beklopften im Ninomiya-House verwundert unsere brennenden Wangen. Der letzte Wintertag.